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M-01 Digitale Transparenz

16.05.2018

Der jüngste Facebook-Datenskandal um das britische IT-Unternehmen Cambridge Analytica reiht sich ein in eine Reihe von Diskussionen über Einflussnahme auf die US-Wahlen über Facebook, die Debatte um Hate-Speech und das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und die Fragen rund um Filterblaseneffekte und Nachrichtenvermittlung über soziale Netzwerke. Wenn mal wieder irgendwo auf der Welt Nutzer*innendaten von Mailprogrammen gehackt werden oder verloren gehen, dann geht das immer einher mit dem Gefühl eines Kontrollverlusts. Ein paar Tage wird in den Medien auf und ab diskutiert, was man zukünftig besser machen will, Kommentator*innen fordern ein strengeres Datenschutzgesetz oder schlagen vor, sich doch einfach abzumelden. Die Diskussionen auf politischer Ebene verlaufen häufig schnell wieder im Sand. Viel zu groß sind Fragen, wie man etwas regulieren soll, wenn es sich um global agierende Unternehmen handelt, die in verschiedenen Rechtsrahmen agieren.Zwar sieht niemand gerne seine oder ihre Daten in falschen Händen, aber neben dem sozialen Zwang, sich auch online zu beteiligen – oder die Bankgeschäfte dort zu erledigen – setzt sich nach und nach immer mehr der Gedanke durch: „Ich habe doch nichts zu verbergen, also interessiert es mich nicht wirklich“. Diese Einstellung ist fatal, aber auch nachvollziehbar. Man kann sich nicht aus dem Online-Leben rausziehen und dies ist auch keine progressive Lösung für die Zukunft. Als Jusos muss es unser Anspruch sein, politische Vorstellungen zu entwickeln, wie alle am digitalen Leben partizipieren können, wie man sicher durchs digitale Leben und vor allen mit Souveränität über das, was man von sich preisgibt, surfen kann. Die Debatte steht noch am Anfang, auch wir werden nicht die Ideallösung für alle Fragen rund um Facebook und Co entwerfen können. Aber im Gegensatz zur GroKo, die Debatten, die dringend gesellschaftlich geführt werden müssten, in Expert*innenkommissionen verschiebt, trauen wir uns als Jusos an die Diskussion ran.

 

Facebook als politisches Kampf- und Konfliktfeld

Wir sprechen über Facebook stellvertretend für jede Form eines sozialen Netzwerkes oder einer Plattform auf der und über die sich Menschen austauschen, in Verbindung zueinander treten, kaufen, verkaufen, werben, sich eine Meinung bilden oder ihre Meinung kundtun. Allerdings müssen wir uns auch explizit mit der Plattform Facebook beschäftigen, weil sie mit 2,1 Milliarden Nutzer*innen massiven Einfluss auf das Leben von knapp einem Viertel der Weltbevölkerung und damit auch auf gesellschaftliches Zusammenleben hat.

Vor ein paar Monaten ging ein Video im Netz viral, auf dem ein Facebook-Justiziar von einem US-Senator rund um die Frage nach russischer Einflussnahme auf die US-Wahl in die Mangel genommen wird. Der Senator fragte den Justiziar, wieso sein Unternehmen elf Monate brauchte, dem Senat beim Verstehen des Ausmaßes des Problems zu helfen. Der Senator hakte nach, wieso Facebook nicht aufgefallen sei, warum Wahlwerbung in den USA in den Währungen Rubel oder dem nordkoreanischen Won gezahlt wurde. Das sei nicht so eindeutig zu beantworten, sagte der Justiziar. Zuckerberg selbst erschien erst Monate später vor dem Senat, als es um den Datenskandal Cambridge Analytica ging.

Die Situation zeigt sehr deutlich, wie über soziale Netzwerke eine digitale Öffentlichkeit zu einer politischen Kampf- und Konfliktzone werden kann. Die privatwirtschaftlich organisierten Plattformen geben sich dann gerne als neutraler Dienstleister, der lediglich die Infrastruktur zur Verfügung stellt. Aber wenn wir auf Wahlkämpfe in den vergangenen Jahren zurückschauen – zum Beispiel auch, dass am Tag der Bundestagswahl 2017 der Hashtag #afd der meist genutzte Hashtag war – zeigt sich, dass es eigentlich keine wirkliche „Neutralität“ gibt und das auch privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen Verantwortung besitzen und politischen Maßnahmen treffen.

Hate Speech, Trolling, Fake News, Identitätsdiebstahl oder Doxxing, das Veröffentlichen von persönlichen Informationen gegen den Willen der Betroffenen, sind Probleme, mit denen tausende von Menschen tagtäglich konfrontiert sind. Da diese Probleme auf Plattformen bestehen, mag es folgerichtig sein, dass von Plattformen auch entsprechende Gegenmaßnahmen zu erwarten sind. Nach dem Nazi-Aufmarsch in Charlottesville haben verschiedene soziale Netzwerke und Domain-Anbieter gehandelt und faschistische Accounts und Websites verbannt. Kurz danach zeigte sich aber, dass das russische Netzwerk „VK“ viele diese Accounts aufgenommen hatte.

Politische Entscheidungen werden aber nicht nur im Innenleben von Netzwerken getroffen. Als im Iran 2009 eine Revolution auszubrechen drohte, verschob Twitter seine geplante Wartungsdowntime, weil sich die Proteste über Twitter organisierten. Auch der russische Hack auf das Gmail-Postfach von John Podesta, Wahlkampfleiter von Hillary Clinton, zeigt deutlich, dass global agierende Internetunternehmen sich nicht auf ihre „Neutralität“ zurück ziehen können und dass sie über verschiedene Facetten sehr deutlich an gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben und dieses auch beeinflussen können.

Plattformen sind die Infrastrukturen unseres digitalen Zusammenlebens. Die Betonung muss hier auf „Struktur“ liegen, denn diese Struktur ist weder beliebig, noch neutral. Die Struktur von Kommunikation vorzugeben, ist bereits eine politische Handlung, sie ermöglicht Interaktionen und verringert die Wahrscheinlichkeit von anderen Arten der Kommunikation. Wie wir etwas posten können, was angezeigt wird, wie wir mit anderen Menschen kommunizieren, gibt uns Facebook vor. Damit sollten wir Plattformen nicht nur als Firmen betrachten, die uns Dienstleistungen anbieten, sondern als politische Institutionen.

Die Macht, die Plattformen wie Facebook ausüben, wird allzu oft missverstanden. Sie leitet sich aus Netzwerkeffekten ab. Ab einer bestimmten Ausbreitung eines Standards – also dem Standard, dass Menschen bei Facebook einen Account haben – sind die Kräfte auf das Individuum so groß, dass es sich diesem nicht entziehen kann. Viel zu häufig wird betont, man könne sich ja auch wieder bei Facebook abmelden. Wenn wir ehrlich sind, sind wir aber nicht bei Facebook, weil uns das Produktdesign gefällt, sondern weil unsere Freund*innen und Bekannte dort sind.

In der politischen Debatte ist längst angekommen, dass Plattformen über Macht verfügen. Aber da diese Macht durch die Faktoren global agierendes Unternehmen mit Monopolstellung und privatwirtschaftliche Firma, die so erst einmal keiner direkten demokratischen Kontrolle unterliegt, schwer zu verstehen ist, wird der Zustand der irgendwie frei um uns herum schwirrenden Plattform noch verschlimmert. Anstrengungen der klassischen Politik, Plattformen zu regulieren, enden deswegen häufig in einem Paradox. Als Beispiel sei hier das Netzwerkdurchsetzungsgesetz angeführt. Es hält Google, Facebook und Co dazu an, offensichtlich rechtswidrige Inhalte zu löschen. Der Staat gibt damit hoheitliche Kompetenzen, nämlich die der Rechtsprechung und Rechtsdurchsetzung, an die Plattformen ab. Das bietet sich auf der einen Seite an, da Plattformen durch ihre Datenstruktur und ihre Zugriffsrechte deutlich tiefen Einblick haben, führt aber auf der anderen Seite dazu, dass die Macht von Plattformen gesteigert wird.

 

Also sind uns die Hände gebunden?

Wenn wir Facebook und Co eine solche politische Macht zuschreiben, müssen wir über politische Regulierung sprechen, auch wenn zu Recht angemerkt wurde, dass politische Regulierung in einigen Fällen auch eher die Kontrolle von staatlichen Institutionen wegnehmen und damit Plattformen als System etablieren und verstärken.

 

Dezentralisierung

Um den Cambridge Analitica-Skandal forderten politische Kommentator*innen die Dezentralisierung unserer sozialen Netzwerke und das Wechseln zu kostenpflichtigen Anbietern, womit diese stärker verpflichtet wären, unsere Daten zu schützen. Dieser Ansatz mag interessant klingen, ist aber nicht kompatibel mit dem berechtigten Anspruch, sich mit allen Menschen auf der Welt vernetzen zu können. Lokale Plattformen mögen interessant sein, um sich eine Bohrmaschine in der Nachbarschaft zu leihen oder das Straßenfest zu organisieren, kommen aber damit nicht an das heran, was uns Facebook ermöglicht. Wenn wir also anerkennen, dass sich Facebook zu einem Standard entwickelt hat, den wir nicht missen wollen und/oder können, kann unser Weg nicht das Ausweichen auf denzentrale oder lokale Gegenplattformen sein, sondern dann muss unser Anspruch sein, Facebook demokratisch zu gestalten und unser Verständnis von Datensouveränität einzubringen. Die Möglichkeit bezahlter sozialer Netzwerke wird vermutlich so enden, wie verschiedene Messenger-Systeme. Auch wenn wir alle schon das ein oder andere Mal eine andere, eventuell auch kostenpflichtige App, auf unserem Handy installiert hatten, führen uns die Netzwerkeffekte mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann zurück zu WhatsApp. Wir fordern daher, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die existierende Netzwerke für Mitbewerber öffnet, beispielsweise indem die Netzwerkbetreiber verpflichtet werden,  einheitliche Schnittstellen zu schaffen, sodass Dritte in das Netzwerk hinein und hinaus kommunizieren können (beispielsweise von Threema zu WhatsApp).

 

Die internationale Ebene vorantreiben

Die Regulierung von Plattformen auf internationaler Ebene scheint schwierig. Die Etablierung internationalen Rechts und internationaler Standards erwies sich in der Vergangenheit schwierig. Im Gegenteil können wir zum Beispiel gerade in der Debatte um Schutzzölle eher ein nationalstaatliches Rollback beobachten. Auch wenn wir weiterhin für die Regulierung globaler Fragen durch die internationale Staatengemeinschaft einstehen, ist es fraglich, in wie weit uns ein solcher Ansatz bei der Regulierung von Facebook und Co kurz- und mittelfristig Abhilfe schafft. Dabei steht für uns aber deutlich fest, dass hier weitere Anstrengungen auf internationaler Ebene angestrebt werden müssen.

 

Rechtsverstöße auch wirklich ahnden

Weiterhin steht aber für uns unabhängig von der Rechtsform oder den nationalstaatlichen Rechtsstandards fest, dass grundlegende Menschen und Persönlichkeitsrechte überall auf der Welt von den Nationalstaaten durchgesetzt werden müssen. Faschistischer Hetze, der Aufruf zur Gewalt oder die Dokumentation von Folter müssen auf Plattformen geahndet und mit rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt werden. Zwar mag es aus datenlogistischer Perspektive Sinn machen, Plattformen mit dem Aufspüren von „offensichtlich rechtswidrigen Inhalten“ zu beauftragen und gegebenenfalls diese auch später zu löschen, allerdings muss die juristische Bewertung von Inhalten Aufgabe der Justiz bleiben.

 

Datensouveränität, Transparenz und Privacy

Viel zu häufig ändern Plattformanbieter ihre AGBs und führen einen neuen Standard ein, den der*die Nutzer*in dann erst rückgängig machen muss. Andersrum muss aber ein Schuh draus werden. Grundlegend muss auf Plattformen das Transparenzprinzip herrschen: ich muss beim Anmelden wissen, welche Daten von mir gesammelt werden und wo sie eventuell einmal landen können und zwar so, dass ich es verstehe, ohne Expert*innenwissen aufweisen zu müssen. Ich muss dem auch widersprechen können, nicht nur bei der Anmeldung, sondern auch später. Wenn nun aber ein neuer Standard eingeführt wird, der meine Datensouveränität hinter den Status Quo stellt, muss sichergestellt sein, dass ich diesem explizit zustimme und ihn einführe und nicht, dass ich es rückgängig machen muss (Privacy bydefault). Hierzu gehört auch eine Verpflichtung zur Zweckbindung und Datensparsamkeit, die im Design einer Plattform angewendet werden muss (Privacy bydesign).

 

Durch Steuern und Abgaben in die Schranken weisen

Dass sich Facebook und Co als eine neutrale Überinstanz geben, die keiner staatlichen Kontrolle unterliegt, liegt auch daran, dass die politische Sphäre es lange verpasst hat, diesen global agierenden Unternehmen durch Steuern ihre gesellschaftliche Verantwortung vor Augen zu führen. Die Debatte um die Besteuerung global agierender Unternehmen ist nicht neu und sicherlich auch schwierig. Es ist aber paradox, wenn Facebook 2014 einen Gesamtumsatz von 12,5 Milliarden Euro aufweist, dass deutsche Tochterunternehmen allerdings nur einen Umsatz von 9,3 Millionen Euro und damit 220.000 Euro Steuern zahlen muss. Hier gilt es weiterhin auf internationaler Ebene an einem integrierten Steuersystem zu arbeiten und hierbei auch soziale Netzwerke einzubeziehen.

 

Ethikkommissionen und Nutzer*innenräte

Wenn wir betrachten, welchen politischen Einfluss Facebook und Co auf gesellschaftliches Zusammenleben haben, dann wird häufig die Einführung von Ethikkommissionen und Nutzer*innenräten diskutiert. Diese im Idealfall demokratisch legitimierten Gremien besitzen die Aufgabe, ethische, moralische und rechtliche Fragestellungen, die sich rund um die Nutzung und Datenschutz drehen, zu diskutieren und Lösungsvorschläge vorzubereiten. Zwar lässt sich kein Unternehmen gerne in die alltäglichen Geschäftspraktiken reinreden, allerdings scheint auch hier die Forderung nach Transparenz geboten. Wer entscheidet bei Facebook und Co wie Algorithmen gestaltet sind, welche Datenschutzstandards verfolgt werden, welche Geschäftspraktiken durchgeführt werden? Die Situation rund um die Anhörung von Zuckerberg oder den Justiziar*innen zeigt, dass man diese Fragen nicht ausschließlich in den Händen der Unternehmen lassen darf. Nutzer*innen und demokratisch legitimierte Individuen haben stellvertretend für die Gesellschaft ein Mitspracherecht, dass Facebook und Co auf welche Weise auch immer integrieren müssen. Es gilt einen Ansatz zu finden, der staatsfern organisiert ist, aber das Gemeinwohl vor Gewinnstreben stellt. Das öffentlich-rechtliche Modell der deutschen Rundfunksender könnte hierfür als Vorbild dienen. Gegebenenfalls sind alternative Angebote, die diesen Anforderungen entsprechen, zu entwickeln und zu fördern.

 

Das Thema in die öffentliche Debatte!

Viel zu oft gelten Fragen um Digitales noch als Randthemen. Die Große Koalition verschiebt viele Fragen im Bereich Digitales in Kommissionen und Expert*innenräte. Aber gerade, weil jede*r von zunehmender Digitalisierung und Vernetzung betroffen ist, gilt es umso mehr, öffentliche Debatten zu führen, in der Partei und in der Gesellschaft. Wir müssen diskutieren, wie wir als Gesellschaft mit sozialen Netzwerken und mit dem, was über diese passiert, umgehen. Wir müssen diskutieren, was Datenschutz für uns heißt und welche Ansprüche wir haben. Wir müssen diskutieren, wie wir in einer digitalisierten und vernetzen Welt leben wollen, und das auch über nationalstaatliche Grenzen hinaus.

EU-05 Zehn Jahre Krise sind genug - Den Euro demokratisieren und eine progressive europäische Wirtschafts-, Industrie- und Handelspolitik schaffen

16.05.2018

Der Zustand der Europäischen Union lässt sich seit einigen Jahren zunehmend mit dem Spruch „Gestern noch vor dem Abgrund, heute schon einen Schritt weiter“ beschreiben. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise vor zehn Jahren keimen kontinuierlich neue Krisenherde auf, die nicht nur zu wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen innerhalb der Union, sondern auch zu einem Vertrauensverlust in die europäischen Institutionen und die europäische Idee und dem Erstarken des Nationalismus geführt haben. Den traurigen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das Votum der Brit*innen gegen die EU-Mitgliedschaft im Juni 2016 dar. Seit dem Brexit-Votum befindet sich die Europäische Union in ihrer wohl schärfsten Krise seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957. Konnte die EU bislang Krisen immer zur Vertiefung der europäischen Integration nutzen, besteht nun zum ersten Mal bei einer Häufung der Krisenherde – neben dem Brexit sind vor allem die Euro-Krise, das Scheitern einer solidarischen Verteilung von Geflüchteten, der Krieg in der Ukraine und die Wahlerfolge nationalistischer Parteien zu nennen – ernsthaft die Möglichkeit des Scheiterns des Europäischen Projektes.

In dieser Situation reicht ein politisches Spannungsfeld zwischen rechten und linken Antieuropäer*innen und proeuropäischen Marktliberalen nicht aus. Die europäische Integration ist als supranationales Projekt der Weg, mit dem im Zeitalter des zunehmend globalisierten Kapitalismus und der längst ausgehöhlten Nationalstaaten demokratische Kontrolle über die freien Märkte erlangt werden kann. Funktionieren kann das aber nur, wenn es zu keinem Stillstand der Integration kommt, wie ihn etwa Wolfgang Schäuble fordert. Die Fortsetzung der europäischen Integration kann nur mehr Demokratie und mehr Gerechtigkeit heißen.

Demokratie und Gerechtigkeit sind hierbei nicht zwei voneinander losgelöste Ziele, sondern hängen eng zusammen. Ein demokratischeres Europa heißt auch, die Menschen in die europäischen Entscheidungen einzubinden, die wirtschaftlich zunehmend abgehängt werden. Der Kampf etwa gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa muss weiterhin zentraler Bestandteil einer jeden europapolitischen Debatte bleiben.

Der aktuelle Diskurs zu Strategien, wie man die Arbeitslosigkeit in Südeuropa senken kann, orientiert sich hegemoniell an der neoliberalen Strategie der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Europas. Die Folge ist, dass vor allem in Südosteuropa unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit die Arbeitnehmer*innen- und Gewerkschaftsrechte zunehmend geschwächt werden, um gerade in exportabhängigen Wirtschaften die Sozialstandards und Lohnkosten zu drücken.

Investitionen in Forschung und Entwicklung auch für die europäische Peripherie sind unerlässlich. Die Stärkung der europäischen Peripherie ohne eine Schwächung des Zentrums ist bedeutsam, um die Fliehkräfte innerhalb EU zu bremsen und das Problem der Abwanderung aus der europäischen Peripherie zu adressieren. Um diese Ziele umzusetzen, reichen Reformen der zumeist nach nationalstaatlichen Interessen geleiteten europäischen Wirtschaftspolitik nicht aus. Notwendig sind Reformen der europäischen Institutionen. Die Reform einer Union aus 28 – ohne Großbritannien 27 – Staaten ist in dieser Lage dermaßen komplex, dass eine Konzentration auf die Integrationsvertiefung und die Institutionalisierung der Eurozone sinnvoll erscheint. Wobei wir unter Eurozone auch alle “willigen” Staaten verstehen, die den Euro mittelfristig einführen wollen und werden. Allerdings lassen sich viele der später beschriebenen Reformvorschläge auch auf die ganze Union ausweiten, sodass die Eurozone als Kerneuropa nicht zu einer geschlossenen Gesellschaft werden darf, sondern auch für Länder der europäischen Nicht-Euro-EU offen stehen muss.

Um die Integration der Eurozone voranzutreiben, muss die Eurozone als politische, wirtschaftliche und soziale Union ausgebaut werden. Als politische Union müssen die Entscheidungswege der Eurozone nicht nur effektiver, sondern auch demokratischer gestaltet werden. Als wirtschaftliche Union braucht die Eurozone Wachstum, das es nur mit mutigen Investitionen und einer Stärkung der gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz-, und Haushaltspolitik gibt. Und als soziale Union müssen Umverteilungsmechanismen die zunehmende Ungerechtigkeit sowohl innerhalb als auch zwischen den Mitgliedsstaaten bekämpfen.

Eine besondere Aufgabe fällt in dieser Lage der europäischen Sozialdemokratie zu. Nur wenn die Sozialist*innen in Europa ihrem internationalistischem Anspruch gerecht werden und für ein solidarisches Europa und nicht für die Vertretung nationaler Interessen kämpfen, können sie die Zukunft eines demokratischeren und gerechteren Europas gestalten.

Um die Eurozone demokratischer und gerechter zu gestalten, schlagen wir folgende Instrumente vor:

  • Die Schaffung einer Euro-Finanzminister*in und einer Euro-Kammer im EU-Parlament. Es ist an der Zeit, den Geburtsfehler des Euro zu beheben: Eine gemeinsame Währung kann ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht funktionieren. Die hier geforderte Kompetenzverlagerung in die Eurozone muss, wenn sie demokratisch legitimiert sein will, durch demokratische Institutionen geschehen. Deshalb plädieren wir für die Schaffung einer Euro-Finanzminister*in, die die gemeinsame Politik koordiniert, und einer Euro-Kammer im EU-Parlament. Die Euro-Kammer setzt sich als Ausschuss des EU-Parlamentes aus EU-Parlamentarier*innen der Länder der Eurozone zusammen. Ihre Beschlüsse werden im EU-Parlament beraten und beschlossen. Die Euro-Finanzminister*in wird durch die Euro-Kammer gewählt und demokratisch kontrolliert. Eine Euro-Kammer hat gegenüber einem eigenen Euro-Parlaments den Vorteil, dass die Abgrenzung zwischen Eurozone und Europäischer Union weniger stark ausfällt und so die Integration von Nicht-Euroländern leichter fällt. Zusätzlich können Vertreter*innen nationaler Parlamente nicht stimmberechtigte Mitglieder der Euro-Kammer sein. Vertreter*innen von Nicht-Euro-Staaten können der Euro-Kammer mit Beobachtungsstatus angehören. Von diesem Reformschritt muss ein klares Signal der Offenheit der Euro-Zone ausgehen. Auch der Eindruck einer Abgrenzung gegenüber den EU Mitgliedern außerhalb des Euro muss vermieden werden.
  • Die Schaffung eines Eurozonen-Budgets, finanziert aus einem Anteil der endlich umzusetzenden Finanztransaktionssteuer, einem Anteile der nationalen Körperschaftssteuern oder weniger schwankungsanfälligen Steuern und möglicherweise zusätzlich aus einer eigenen konjunkturabhängigen Eurozonen-Steuer oder Beiträgen der Eurozonen-Staaten. Das Budget sollte für Investitionen in Infrastrukturprojekte und für den Aufbau eines europäischen Sozialsystems verwendet werden.
  • Die Schaffung einer europäischen Arbeitslosenversicherung und eines europäischen Kurzarbeiter*innengeldes aus Mitteln des Eurozonen-Budgets. Die europäische Sozialpolitik wird aufgrund der starken Unterschiede der Sozialstaatsmodelle in den Mitgliedsstaaten zunächst nicht die nationale Sozialpolitik ersetzen können. Ziel dieser Politik muss es deshalb sein, die nationalen Sozialschutzsysteme einander anzunähern. Eine europäische Arbeitslosenversicherung bietet sich an, um die sozialen Transfers von reicheren zu ärmeren Eurozonen-Staaten zu organisieren. So können bei asymmetrischen ökonomischen Schocks und hoher Arbeitslosigkeit in einzelnen Euro-Staaten die nationalen Sozialsysteme entlastet werden. Wichtig sind dabei klare Regelungen, sodass die europäische Arbeitslosenversicherung nicht als Anreiz zu weniger Bekämpfung struktureller Arbeitslosigkeit gesehen werde kann. Es muss also klare Kriterien und zeitliche Befristungen geben.

Weil für die Umsetzung einer solchen europäischen Arbeitslosenversicherung ein langer Weg notwendig ist, ergibt es Sinn, im Vorgriff schon ein europäisches Kurzarbeiter*innengeld nach deutschem Vorbild einzuführen. Mit diesem Mittel können Arbeitnehmer*innen, ergänzend zu den unterschiedlichen nationalen Kurzarbeiter*innenzahlungen, bei konjunkturell bedingtem Arbeitsausfall zeitlich begrenzt Zahlungen für ausfallende Arbeitsstunden erhalten. Verbinden lassen sich diese Zahlungen auch mit dem EU-Globalisierungsfonds, sodass die Weiterbildung von Arbeitnehmer*innen in Kurzarbeit stärker bezuschusst werden kann.

  • Mehr Investitionen in die Zukunft Europas. Die Austeritätspolitik, die in den vergangenen Jahren besonders von der deutschen Bundesregierung durchgesetzt wurde, führt vor allem im Süden Europas zu katastrophalen Wachstumseinbrüchen. Arbeitslosigkeit und eine noch höhere Staatsverschuldung sind die Folge. Um vor allem die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Staatsschulden langfristig und nachhaltig zu sanieren, bedarf es stärkerer europäischer Investitionen. Außerdem werden Maßnahmen benötigt, die die Binnennachfrage in den Staaten mit exzessivem Leistungsbilanzüberschuss, der zulasten von anderen Ländern geht, stimulieren.
  • Ein begrenztes Umschuldungsprogramm, in dem die Staaten der Eurozone gesamtschuldnerisch für die Staatsverschuldung bis zur Maastricht-Grenze von 60 Prozent des BIP haften.
  • Einen Pakt für europäische Mindestlöhne, der Korridore für faire Mindestlöhne gemessen am Durchschnittseinkommen in den Mitgliedsstaaten festlegt sowie Mindeststandards für nationale Systeme der Mindestsicherung und die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen.
  • Die Koordinierung der europäischen Steuerpolitik um Steuerdumping zu bekämpfen.
  • Eine Verbesserung der Abstimmung zwischen den Sozialpartner*innen auf Eurozonen- Ebene. Dafür ist eine stärkere Einbindung der Sozialpartner*innen in das Europäische Semester notwendig. Außerdem muss die europäische Mitbestimmung ausgeweitet und europäische Koordinierungsinstrumente zwischen den Sozialpartnern aufgebaut werden. Ein wichtiger Schritt dazu ist eine Europäische Säule sozialer Rechte, die soziale Grundrechte in den EU-Verträgen rechtlich auf die gleiche Ebene stellt wie die vier wirtschaftsliberalen Grundfreiheiten des Binnenmarktes. Das Hauptaugenmerk der verbesserten Abstimmung der Sozialpartner*innen muss auf koordinierten Lohnsteigerungen, der Steigerung der europäischen Investitionen und einem gerechten Übergang ins Zeitalter der Digitalisierung liegen.
  • Die Überführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus in Gemeinschaftsrecht und die Weiterentwicklung zu einem Europäischen Währungsfonds.
  • Implementierung einer nachfrageorientierten Wende in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik in Europa statt Anreize für strukturelle Angebotspolitik z.B. als Folge einer Steigerung des Wettbewerbsdrucks durch das Abschließen von Freihandelsabkommen mit anderen Volkswirtschaften/ Wirtschaftsräumen, mit denen keine gemeinsame Ebene für demokratische Repräsentation etabliert ist. Ein demokratisches Europa, in dem nachfrageorientierte Fiskal- und Wirtschaftspolitik umgesetzt wird ist die Grundlage für gute Arbeit, fairen Welthandel und die Verminderung der Fliehkräfte zwischen dem Zentrum und der Peripherie Europas.
  • Einen politischen Vorrang für die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes vor internationalen Freihandelsabkommen.
  • Schaffung einer aktiven Innovationspolitik für die Europäische Union, die die Problematik des „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ berücksichtigt, indem die dezentrale Förderung von wettbewerbsfähigen Innovations-Clustern gefördert wird. Positive historische Beispiele für gemeinschaftliche Projekte stellen zum Beispiel Airbus oder auch die Förderung der europäischen Raumfahrtindustrie im Rahmen der Aktivitäten der Europäischen Weltraumorganisation ESA dar.
  • Langfristig verfolgen wir das Ziel, dieses System abzulösen und alle Entscheidungen direkt durch das Europaparlament zu fällen.

A-02 Demokratische und soziale Errungenschaften bei Freihandelsabkommen bewahren

14.05.2018

Demokratische und soziale Errungenschaften bewahren – Freihandelsabkommen neuer Art ablehnen!

Die SPD-Abgeordneten, insbesondere im Bundestag und im Europäischen Parlament, die SPD-Mitglieder, die ein Regierungsamt innehaben, der Parteivorstand, alle FunktionsträgerInnen und Mitglieder der Partei werden aufgefordert,

  • sich gegen Freihandelsabkommen neuer Art zu wenden und Freihandelsabkommen in Zukunft nur zuzustimmen, wenn sie sich, soweit sie über WTO-Recht hinausgehen, auf den Abbau von Zöllen, Mengenbeschränkungen und rein technische Handelshemmnissen beschränken. Das sind solche, die keine Normen und Regelungen oder Verfahren im öffentlichen Interesse aufweisen, die in andere Politikbereiche hineinragen.
  • bei Freihandelsabkommen stets dem Vorsorgeprinzip vollumfänglich Rechnung zu tragen,
  • sicherzustellen, dass keine Vorschrift im Abkommen enthalten ist oder so ausgelegt werden kann, dass sie die Erbringung von wirtschaftlichen oder nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse durch die öffentliche Hand begrenzt oder beeinträchtigt,
  • Bereichsausnahmen für die Kulturwirtschaft und eine für die Bildung in Freihandelsabkommen aufzunehmen,
  • dafür zu sorgen, dass die Abkommen keinen Investitionsschutz beinhalten, der ausländischen Investoren mehr prozessuale und materielle Rechte gewährt als inländischen Investoren (Gleichbehandlung mit inländischen Investoren). Das bedeutet auch, die Tatbestände der fairen und gerechten Behandlung, der indirekten Enteignung oder vergleichbarer Tatbestände dürfen nicht enthalten sein.
  • die in den neuen Freihandelsabkommen enthaltenen Kapitel auszubauen, die darauf ausgerichtet sind, Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Schutz der Arbeit zu erhalten und zu fördern. Dabei sind wirksame Sanktionen bei Verstößen erforderlich.
  • die Souveränität der Parlamente und Regierungen zu achten: Die Ausschüsse auf Beamtenebene (die Exekutivstruktur), die bei der Umsetzung der Abkommen teilweise weitreichende Befugnisse haben, dürfen auf keinen Fall in die Kompetenzen der Parlamente und der Regierungen eingreifen,
  • darauf zu achten, dass nur solche Vorschriften aufgenommen werden, die über die Abkommen der Welthandelsorganisation hinausgehen. Erforderlich ist eine transparente, klare und übersichtliche Fassung der Verträge ohne Rechtsunklarheiten.

 

V-01 Errichtung und Betrieb von Verkehrsübungsplätzen

8.05.2018

Alle 79 Minuten verunglückt ein Kind und alle 54 Minuten ein Senior (ab 65 Jahren) auf den Straßen von NRW. Um dem präventiv entgegenzuwirken setzt sich die NRWSPD dafür ein, dass die Kommunen verpflichtet werden, Verkehrsübungsplätze zu errichten bzw. diese zu betreiben. Bei der Errichtung und im Betrieb erhalten die Kommunen finanzielle Unterstützung von Bund und Land.

Der Betrieb der Verkehrsübungsplätze erfolgt durch die Polizei, unter Einsatz von VerkehrssicherheitsberaterInnen, in Kooperation mit der Verkehrswacht.

EU-04 Europa: Solidarität statt Austerität

2.05.2018

In den letzten Jahren haben sich immer mehr BürgerInnen von der Europäischen Union abgewendet. Einer Union, die in wichtigen Fragen uneinig wirkt, die scheinbar nur einigen Wenigen nützt, die einseitig auf Marktliberalisierung und Kapitalverkehrsfreiheit setzt und in der der Solidarität zwischen Stärkeren und Schwächeren scheinbar kein eigener Wert zukommt. Diese Entwicklung ist gefährlich: Sie untergräbt nicht nur die Akzeptanz einer Institution; sie bedroht die Entwicklung eines europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells insgesamt.

 

Ein Kurswechsel tut Not. Die Sozialdemokratie in Europa hat sich in den letzten Jahren zwischen die Alternativen neoliberales Markteuropa auf der einen und den Rückzug in die Grenzen nationalstaatlicher Politik auf der anderen Seite zwängen lassen. Aber diese Alternativen sind beide auf Dauer schlecht für die Menschen in Deutschland und in Europa. Wir wollen endlich einen Neuanfang für ein neues, ein sozialeres und demokratischeres Europa.

 

Gerade die Bundesrepublik hat unter der Führung von Angela Merkel mit Fokussierung auf Exporte und dem Beharren auf „Haushaltsdisziplin“ in den letzten Jahren einen  sozialen Aufbruch in der europäischen Gemeinschaft verhindert. Die Abkehr vom Dogma der „Schwarzen Null“ hierzulande ist Voraussetzung für eine andere Politik in ganz Europa und eine Stärkung aller progressiven Kräfte.

 

Die Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion müssen beseitigt und die EU zu einer politischen Union mit einer starken sozialen Dimension weiterentwickelt werden. Europa muss auf Solidarität und Investitionen statt auf Austerität (strikte Sparpolitik und Einschränkung der Staatstätigkeit) setzen. Wir brauchen gemeinsame Sozialstandards, die an die Lebensbedingungen, die wirtschaftliche Kraft und die sozialstaatlichen Traditionen der jeweiligen Länder und Regionen anknüpfen, aber zugleich zur sozialen und wirtschaftlichen Konvergenz beitragen. Ein solches Europa und die damit verbundenen Anstrengungen und gegenseitigen Verpflichtungen werden sich aber nur durchsetzen lassen, wenn die Menschen umfassend mitbestimmen können. Ohne Demokratisierung keine Vertiefung der innereuropäischen Beziehungen!

 

Konkret fordern wir:

I. Arbeit und Soziales – Europas Akzeptanz steht auf dem Spiel

  • Wir wollen verbindliche Mindeststandards im Bereich der Sozialpolitik, wie z.B. gemeinsame Prinzipien bei der Festsetzung nationaler Mindestlöhne (z.B. in Abhängigkeit von nationalen Durchschnittseinkommen oder Rentenniveaus). Es kann nicht sein, dass ArbeitnehmerInnen aus verschiedenen europäischen Ländern weiter gegeneinander ausgespielt werden.
  • Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit braucht es europäische Programme zur Förderung von Ausbildung und Qualifizierung (z.B. finanzielle Beihilfen zur Einführung von dualen Ausbildungssystemen).
  • „Mitbestimmungsdumping“ muss aufhören. Wir brauchen gemeinsame Regeln für die effektive und grenzüberschreitende Mitbestimmung von ArbeitnehmerInnen. Es gibt keinen Grund für nationale Parzellierung von Arbeitnehmervertretungen in transnationalen Unternehmen, die in einem gemeinsamen Markt agieren. Europäische Betriebsräte müssen echte Mitbestimmungsrechte bekommen.
  • Die Entsenderichtlinie muss überprüft, um Mißbrauchstatbestände erweitert und diese müssen effektiv sanktioniert werden. Solange keine hinreichende Konvergenz von Arbeits- und Lebensbedingungen gegeben ist, können Arbeitnehmerfreizügigkeit und Entsendung (mit sozialversicherungsrechtlichen Befreiungen) zum Zwecke des Sozialdumpings missbraucht werden.
  • Einheitliche und hohe Mindeststandards im Bereich des Arbeitsrechts müssen ausgebaut werden. Nationale Standards des Arbeitnehmerrechts und der Arbeitnehmermitbestimmung dürfen durch europäische Gesetzgebung nicht abgesenkt werden.

 

II. Steuern und Haushalt – Solidarität ist keine Einbahnstraße

  • Wir brauchen eine vom Europäischen Parlament gewählte Europäische Wirtschaftsregierung, die eine gemeinsame Wirtschaftspolitik verantwortet. Ein europäischer Finanzminister, der nur die bisherige Spar- und Austeritätspolitik ohne volle demokratische Verantwortung gegenüber dem Europäischen Parlament noch machtvoller durchsetzt, wird zum Totengräber der EU. Fiskalische (haushaltsrechtliche) ohne demokratische Kontrolle lehnen wir ab.
  • Die Länder der Eurogruppe sowie die Länder, die dazu bereit sind, sollten notfalls im Wege der verstärkten Zusammenarbeit verbunden mit umfassender Kontrolle durch das Europäische Parlament im Bereich einer einheitlichen Finanz- und Steuerpolitik vorangehen. Wer nicht mitmacht, kann auch nicht von gemeinsamen Ausgaben profitieren (z.B. Investitionsprogrammen, Kohäsions- und Strukturfonds, Transfermechanismen der Währungs- und Geldpolitik etc.).
  • Die Finanztransaktionssteuer muss endlich kommen.
  • Ertragssteuern sind dort zu erheben, wo Wertschöpfung stattfindet (und insbesondere dort, wo ArbeitnehmerInnen beschäftigt werden). Dies funktioniert nur, wenn die EU maßgeblich durch das Europäische Parlament verantwortete Zuständigkeiten im Bereich der direkten Steuern bekommt, damit sie Kohärenz (Vergleichbarkeit und Abgestimmtheit) der nationalen Steuersysteme aktiv fördern und Steuerdumping vorbeugen kann. Bilaterale Vereinbarungen (Doppelbesteuerungsabkommen) müssen durch europäische Regeln ersetzt werden, um Schlupflöcher und Umgehungsmöglichkeiten zu beenden. Die Regeln zur Begrenzung der Gewinn- und Verlustverschiebung müssen weiter präzisiert und verschärft werden. Für die Einhaltung und Durchsetzung dieser Regeln sollten nicht (nur) die nationalen Steuerbehörden, sondern (auch) die EU-Kommission zuständig sein. Wie die Apple/Starbucks/Amazon-Fälle zeigen, ist nur durch eine übergeordnete Instanz eine effektive Durchsetzung gewährleistet.
  • Die gemeinsame konsolidierte Bemessungsgrundlage muss endlich kommen. Die vorliegenden Vorschläge gehen nicht weit genug und müssten um wesentliche Aspekte ergänzt werden (z.B. EU-weit gleiche Abschreibungsmöglichkeiten, Höchstgrenzen zur steuerlichen Abzugsfähigkeit von Managervergütungen, in Abhängigkeit von den untersten Lohngruppen im jeweiligen Unternehmen).
  • Wir brauchen mittelfristig EU-weit verbindliche Mindeststeuersätze.

 

  • Ausnahmetatbestände im Umsatzsteuerrecht müssen radikal reduziert und vereinheitlicht werden, um Umgehungen und Betrügereien vorzubeugen.
  • Es sollten EU-weite Höchstsätze bei Umsatzsteuern vereinbart werden. Die schleichende Umverlagerung von Unternehmens- und Ertragssteuern auf Umsatzsteuern in den letzten Jahrzehnten ging zu Lasten der einkommensschwächeren Bevölkerungsteile. Dieser Trend muss europaweit gestoppt werden.

 

III. Investitionen und Wachstum statt Austeritätspolitik

  • Europa braucht eine Abkehr von der sozial verheerenden Austeritätspolitik insbesondere in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit. Es müssen andere, neue Wege gefunden werden, um die öffentliche Verschuldung in ein ausgewogenes Verhältnis zur Wirtschaftsleistung und zum öffentlichen Vermögen zu bringen (Schuldenerlass, Vermögensabgaben, Fonds- bzw. Tilgungsfondslösungen, Reichensteuern o.ä.).
  • Europa braucht Investitionen gegen die Arbeitslosigkeit, insbesondere in Ausbildung und Qualifizierung, sowie in Programme zur Unterstützung des Strukturwandels in ärmeren Mitgliedstaaten. Sinnvoll sind auch grenzübergreifende Bildungs-, Fortbildungs- und Ausbildungsprogramme, die neben dem Arbeitsmarkt auch den Austausch von Bürgerinnen und Bürgern aus verschiedenen Mitgliedstaaten fördern.
  • Es muss mehr Investitionen in Infrastruktur geben: digitale, sowie Energie- und Transportnetze (inkl. E-Mobilität). Diese Infrastruktur hat grenzübergreifenden Nutzen und sollte daher gemeinsam finanziert werden.
  • Die Mittelzuteilung für die Integration von Flüchtlingen muss solidarisch organisiert und Teil der Budgetverhandlungen werden.
  • Die Rekommunalisierung von privatisierten Betrieben darf nicht durch europäisches Wettbewerbs- Beihilfen- oder Vergaberecht praktisch vereitelt werden; entsprechende Regeln müssen überprüft und durch Ausnahmetatbestände bzw. Freigabemechanismen ergänzt werden.

 

Europa steht vor großen Herausforderungen, von innen wie von außen. Diese lassen sich nur gemeinsam lösen. Das Fundament der europäischen Gesellschaftsordnung ruht auf sozialem Ausgleich, Teilhabe und Chancengleichheit. Nur wenn es der Europäischen Union gelingt, diese Solidarität auch in Zukunft zu organisieren, kann sie dauerhaft Bestand haben.

EU-03 Die EU auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie

27.04.2018

Die Forderung nach einem Europa der Demokratie und des lebendigen Parlamentarismus ist durch den Koalitionsvertrag zum Regierungsprogramm geworden und das Streben nach den Vereinigten Staaten von Europa begleitet die deutsche Sozialdemokratie bereits seit 1925. Diese Leitlinien und Zielvorstellungen gilt es nun mit politischem Leben zu füllen. Die SPD hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Demokratie in der Europäischen Union zu stärken und die Bürgerinnen und Bürger wieder verstärkt für die europäische Idee zu gewinnen. Für konkretes politisches Handeln bedeutet das, dass sich die EU von einer Kultur der technokratischen und verhandlungsbasierten Politikgestaltung hin zu einem System der politischen Auseinandersetzung und des politischen Wettbewerbs entwickeln muss. Politisierung und Demokratisierung gehen Hand in Hand; Parteien und Parlamente sind in einer repräsentativen Demokratie ihre zentralen Akteure. In diesem Sinne werden die sozialdemokratischen Verantwortlichen in der Bundesregierung, im Bundestag, im Europäischen Parlament und in der Partei selbst aufgefordert, in ihrer Arbeit die im Folgenden skizzierten Ziele maßgeblich zu verfolgen.

 

Echte Europäische Parteien und richtige Europawahlen

Für die demokratische Gestaltung sind Parteien unverzichtbar. Das gilt auch für die europäische Ebene. Parteipolitische Mitwirkung verlangt jedoch auch nach innerparteilicher Willensbildung und Mitbestimmung, die nur durch die Mitglieder einer Partei gewährleistet werden kann. In diesem Sinne soll sich die SPD als eine der größten Mitgliedsparteien in der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) für die Möglichkeit und satzungsgemäße Verankerung der individuellen Mitgliedschaft natürlicher Personen in der SPE einsetzen und sie somit zu einer beispielgebenden prototypischen Europäischen Partei weiterentwickeln. Die SPD soll außerdem darauf hinwirken, dass das Parteienstatut der Europäischen Union insofern geändert wird, als die individuelle Mitgliedschaft zu einer der Voraussetzungen für die Anerkennung als Partei auf europäischer Ebene wird.

Um den Willen der Bürgerinnen und Bürger Europas auch auf parlamentarischer Ebene abbilden zu können, bedarf es einer möglichst unmittelbaren Übersetzung des durch Wahlen ausgedrückten Willens in politische Mehrheiten. Die nach wie vor mit einem nationalen Charakter behafteten Wahlen zum Europäischen Parlament müssen daher konsequent europäisiert werden. Das erfordert die Einführung eines einheitlichen, europaweiten Wahlrechts, durch das 50 Prozent der zu vergebenden Mandate über transnationale Parteilisten bestimmt und die übrigen Mandate in den Mitgliedsstaaten nach europaweit einheitlichen Verfahren vergeben werden. Durch ein solches System wird der Gedanke der nationenübergreifenden Tragweite europapolitischer Entscheidungen und der davon ableitbaren erforderlichen Solidarität zwischen den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten betont und verstärkt.

 

Starke Demokratie durch ein starkes Parlament

Der nun wirklich europäische Charakter der Europawahlen würde die an vielen Stellen geforderte Stärkung des Europäischen Parlaments als unmittelbares Repräsentationsorgan der europäischen Bürgerinnen und Bürger auf eine neue Stufe heben. Um jedoch der Wahl die angemessene Bedeutung zu verleihen, muss auch das Parlament selbst über signifikant stärker ausgeprägte und ausgebaute Rechte verfügen, um dem demokratischen Willen, der durch die Europawahlen zum Ausdruck gebracht wurde, gerecht zu werden:

 

  • Neben der Wahl der Kommissionspräsidentin/ des Kommissionspräsidenten und der Bestätigung der Kommission im Ganzen muss das Europäische Parlament das Recht erhalten, mit der Mehrheit seiner Stimmen die Kommission durch die Wahl einer neuen Kommissionspräsidentin/ eines neuen Kommissionspräsidenten abzuwählen und zu ersetzen (konstruktives Misstrauensvotum). Dieses Recht verstärkt den politischen Charakter der Kommission und macht sie mittelbar von der Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger durch ihre parlamentarischen Repräsentanten abhängig. Gleichzeitig wird die Tendenz zur festen Koalitionsbildung im Europäischen Parlament als Ausdruck gesellschaftlich-politischer Mehrheiten verstärkt.

 

  • Der politische Charakter der Kommission als Quasi-Regierung der Europäischen Union muss darüber hinaus verstärkt werden, indem ihre Struktur an die Erfordernisse effektiven Regierens angepasst wird. Das bedeutet zum einen die Notwendigkeit zur deutlichen Reduzierung der Anzahl der Kommissarinnen und Kommissare, zum anderen die Rekrutierung des führenden Kommissionspersonals aus den Reihen der Europäischen Parteien. Das schließt das Spitzenkandidatenmodell ausdrücklich mit ein. Um auch weiterhin alle Nationalitäten berücksichtigen zu können, werden die Ämter der Kommissarinnen und Kommissare sowie der Generaldirektorinnen und Generaldirektoren gleichermaßen für den Verteilungsschlüssel herangezogen.

 

  • Das Europäische Parlament muss mit einem dem der Kommission gleichgestellten Initiativrecht ausgestattet werden, das es mit einer Anzahl von Abgeordneten, die den Bedingungen zur Fraktionsbildung entspricht, ausüben kann.

 

  • Das Recht, über die Verteilung der EU-Mittel zu entscheiden und den Haushalt zu beschließen, muss vollständig auf das Europäische Parlament übergehen.

 

  • Um die von ihm abhängige Kommission besser kontrollieren zu können, bedarf es neben den bereits bestehenden Auskunftsrechten des Europäischen Parlaments zusätzlich des Rechts, einzelne Kommissionsmitglieder bindend in das Plenum oder einzelne Ausschüsse des Parlaments zu laden und dort zu befragen.

 

Demokratie braucht Transparenz

Es besteht große Einigkeit darüber, dass das Entscheidungssystem der EU zu komplex ist, um von politisch interessierten Bürgerinnen und Bürgern nachvollzogen und verstanden werden zu können. Ziel einer institutionellen Demokratisierung muss es also sein, Komplexität zu reduzieren und politische Prozesse und Verantwortlichkeiten transparent zu gestalten. Dazu bedarf es einer Verfassung, die nicht nur das Zusammenspiel der Organe regelt, sondern auch deutliche und sinnvoll hergeleitete Aussagen über die Zuständigkeiten der verschiedenen Ebenen (EU, Mitgliedsstaaten, subnationale Ebenen) trifft. Verfassungsprinzip darf nicht – wie bisher – die Erfüllung bestimmter Ziele sein, sondern die Abgrenzung der Zuständigkeiten nach Politikfeld.

Die politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen der letzten siebzig Jahre machen es erforderlich, über eine Neuordnung der Kompetenzzuteilung zwischen Europäischer Union, ihren Mitgliedsstaaten und deren subnationalen Gebietskörperschaften zu verhandeln. Maßgeblich müssen dabei die Prinzipien der Transparenz und logischen Nachvollziehbarkeit sowie der Subsidiarität in ihrer vollen Konsequenz sein. Die Zuweisung der Kompetenzen muss sinnvoll gemäß den damit verbundenen globalen, nationalen oder regionalen Herausforderungen entsprechend auf die europäische, nationale oder subnationale Ebene erfolgen.

Gleichzeitig müssen mit der Kompetenzneuordnung auch die institutionellen Rahmenbedingungen angepasst werden. Die Gestalt der Europäischen Union sollte sich daher am organisatorischen Leitprinzip eines trennföderalen Systems orientieren. Es gilt, verbundföderale Strukturen, die die Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungswege und Verantwortung erschweren, möglichst weitgehend abzubauen. Einzuführen sind in diesem Zusammenhang die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz jeweils für die Mitgliedsstaaten und die Europäische Union sowie das Recht zur Rahmengesetzgebung für die EU. Für die Einbettung in die parlamentarische Struktur der Europäischen Union muss diese in ein durchschaubares und scharf konturiertes Drei-Kammern-System umgewandelt werden.

Während in diesem System die ersten beiden Kammern an der supranationalen Gesetzgebung beteiligt sind, obliegt der dritten Kammer als Vertretung der Mitgliedstaaten die Fortentwicklung der EU-Verfassung. Die Kammerstruktur der ordentlichen Gesetzgebung auf europäischer Ebene besteht aus:

 

  • dem Europäischen Parlament als supranationaler Vertretung der Bürgerinnen und Bürger und zentraler Gesetzgebungskammer. Perspektivisch muss das Parlament vollständig über transnationale Listen gewählt werden;

 

  • dem Rat der Europäischen Union als transnationaler Vertretung der Bürgerinnen und Bürger in Gestalt eines Europäischen Senats, der in direkter Wahl im nationalen Rahmen gewählt wird und bei dem jedem Mitgliedsstaat gemessen an seiner Bevölkerungsgröße zwischen drei und acht Mandate zustehen. Er wird im Bereich der Rahmengesetzgebung als zweite Kammer beteiligt und fasst seine Beschlüsse mit absoluter Mehrheit.

 

Die dritte Kammer bildet der Europäische Rat in seiner jetzigen Zusammensetzung. Er entscheidet über Vertragsänderungen und -anpassungen und repräsentiert die Mitgliedsstaaten als Herren der Verträge.

EU-02 Eine SPD-Strategie für eine europäische Außen- und Friedenspolitik

27.04.2018

Die Weltgemeinschaft befindet sich in einer tiefen Krise. Die Zahl der Kriege und bewaffneten Konflikte hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, man denke nur an die blutigen Auseinandersetzungen in Syrien, Irak, Jemen, Afghanistan sowie in Teilen Afrikas. Auch der Konflikt in der Ukraine dauert an. Die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel verschärfen sich weiter und bedrohen den Weltfrieden. Jedes sechste Kind lebt inzwischen in einem Kriegs- oder Konfliktgebiet. Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht; mehr als jemals zuvor. Humanitäre Katastrophen bahnen sich an oder finden schon statt. Angefeuert wird diese Lage durch geo- und regionalpolitische Rivalitäten, religiösen Fanatismus, autoritäre Regime sowie rechtspopulistische und nationalistische Kräfte.

 

Auch die globale Entwicklung macht geringere Fortschritte als erhofft. Der Kampf gegen den Hunger hat noch keinen Durchbruch erzielt; nach wie vor hungern rund 800 Millionen Menschen, weitere zwei Milliarden Menschen sind aufgrund einseitiger Ernährung fehlernährt. Hunderte Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder zu sanitären Einrichtungen. Hinzu kommt eine drohende Umweltkatastrophe aufgrund des Klimawandels. Dramatisch sind auch der nicht nachhaltige Ressourcenverbrauch, die Verluste an biologischer Vielfalt und die Beeinträchtigungen natürlicher Ökosysteme. Auch die soziale und politische Teilhabe ist in weiten Teilen der Welt nur gering ausgeprägt. Der Zugang zu sozialen Sicherungssystemen und zu Bildungsangeboten ist beschränkt und ungerecht verteilt. Es mangelt in vielen Staaten an guter Regierungsführung.

 

In dieser kritischen Lage verschiebt sich derzeit die internationale Machtbalance: Während die USA ihre nationalen Interessen an die erste Stelle setzen, sich aus der internationalen Verantwortung und Kooperation zurückziehen und um ihre Stellung als stärkste (auch militärisch) Weltmacht kämpfen, gewinnt China mit einer militärisch unterlegten geopolitischen Strategie zunehmend an internationalem Einfluss. Auch Russland verfolgt seine Machtinteressen offensiv und teils mit militärischen Mitteln. Ein neuer atomarer Rüstungswettlauf hat begonnen, der sich auf die Entwicklung kleiner Kernwaffen konzentriert.

 

Es ist daher höchste Zeit, dass sich die Europäische Union ihrer Stärken besinnt und eine aktivere, der Friedensförderung verpflichtete Rolle in der internationalen Politik übernimmt. Die Europäische Union kann stolz auf über 70 Jahre des friedlichen Zusammenlebens ihrer Mitgliedstaaten zurückblicken. In dieser historisch beispiellosen Friedenszeit konnte sich ein Raum der Freiheit entfalten, der durch die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts und durch die Herrschaft des Rechts gekennzeichnet ist, vor allem aber durch die Herausbildung einer freiheitlich-demokratischen Wertegemeinschaft, wie sie etwa in der Grundrechtecharta zum Ausdruck kommt. In wirtschaftlicher Hinsicht vollbrachte die Europäische Union einen beispiellosen Aufstieg aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs zum größten Binnenmarkt der Welt, der fast ein Viertel des globalen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Zugleich konnte in der Europäischen Union – bei allen verbleibenden regionalen Unterschieden und Schwierigkeiten – ein im globalen Vergleich relativ hohes Niveau an sozialen und ökologischen Standards erreicht werden. Auf internationaler Ebene verfügt die Europäische Union als bedeutender Akteur in verschiedenen internationalen Organisationen und Formaten – etwa auch in der G7 und der G20 – sowie mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst schon heute über Gestaltungspotenzial. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten finanzieren zudem mehr als die Hälfte der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit.

 

Das Vakuum, das die USA hinterlassen, darf nicht autoritären und undemokratischen Staaten überlassen werden. Vielmehr muss die Europäische Union diese Situation als Chance begreifen. Als Staatenverbund mit rund 500 Millionen Einwohnern und als führende Wirtschaftsmacht kann sie bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung der globalen Fragen gewinnen. Dies setzt allerdings voraus, dass sie effiziente und schlagkräftige Strukturen aufbaut, Entscheidungsprozesse schlanker und demokratischer gestaltet und dass sie und ihre Mitgliedstaaten auf dem globalen Parkett mit einer Stimme sprechen.

 

Eine so aufgestellte Europäische Union kann einen wirkungsvollen Beitrag dazu leisten, die aktuellen dramatischen Konflikte einzudämmen, dauerhafte Stabilität zu gewährleisten und weltweite Entwicklung zu ermöglichen – und damit die Lebensverhältnisse aller Menschen zu verbessern.

 

Wir fordern daher:

 

1. Aufstellung der Europäischen Union für die internationale Politik

Die Europäische Union muss sich strukturell so aufstellen, dass sie ihre Stärken international bestmöglich einsetzen kann. Die internationale Politik der Europäischen Union muss kohärenter gestaltet werden, gegebenenfalls auch in einem Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Dies schließt sowohl die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als auch die anderen Außenbeziehungen (EU-Kommission) ein. Die EU muss ihre Fähigkeiten der zivilen Konfliktlösung stärken und eine Arbeitseinheit „Friedensförderung“ im Europäischen Auswärtigen Dienst einrichten – zur Entwicklung einer friedenspolitischen strategischen Antwort der EU auf Konflikte.

 

Das Amt der/des Hohen Vertreterin/Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik muss gestärkt werden. Die/Der Hohe Vertreterin/Hohe Vertreter muss für alle zentralen Bereiche der internationalen Politik zuständig sein. Ihre Rolle muss daher über die bloße Koordination der Positionen der Mitgliedstaaten weit hinausgehen. Ihre Beratung muss gleichrangig durch das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) und einen aufgewerteten Ausschuss für die zivilen Aspekte der Krisenbewältigung (Committee for Civilian Aspects of Crisis Management, CIVCOM) erfolgen.

 

Auf dem Gebiet der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik muss anstelle des derzeitigen Einstimmigkeitsprinzips verstärkt mit Mehrheit entschieden werden.

 

2. Außenpolitische Strategie

Die Europäische Union muss die Gesamtheit ihrer Außenbeziehungen an den Zielen der Förderung des Friedens und der nachhaltigen Entwicklung ausrichten und zu diesem Zweck eine entsprechende Strategie einschließlich der dafür zu ergreifenden Maßnahmen erarbeiten. Wir machen eine präventive, umfassende Friedens- und Entwicklungspolitik zum strategischen Schwerpunkt der europäischen Politik. Pfeiler dieser Politik sind die soziale, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit der Agenda 2030.

 

Wir bekräftigen – unbeschadet des gegenwärtigen Rückzugs der USA – die herausragende Bedeutung der transatlantischen Beziehungen. Wir teilen mit den USA und mit Kanada grundlegende Werte und gemeinsame Interessen. Das soll auch so bleiben. Zugleich sind wir davon überzeugt, dass Europa selbstbewusster werden und eine stärkere, eigenständige internationale Rolle übernehmen muss.

 

3. Frieden und Sicherheit

Die Europäische Union muss für ganz Europa eine inklusive Sicherheitsarchitektur anstreben. Zur Wiederbelebung der Entspannungspolitik muss sie vordringlich ein Konzept deeskalierender und vertrauensbildender Maßnahmen vorlegen und sich für die Einberufung einer europäischen Friedenskonferenz (unter Einbeziehung der USA, Kanadas und Russlands) zum frühestmöglichen Zeitpunkt einsetzen. Es muss alles unternommen werden, die sich abzeichnende Gewaltspirale zu stoppen und ein Wettrüsten – sowohl konventionell wie atomar – in Europa zu verhindern. Eine nachhaltige Stärkung der OSZE im Rahmen ziviler Konfliktbewältigung ist anzustreben.

 

Die Europäische Verteidigungsunion muss einer demokratischen und rechtsstaatlichen Kontrolle unterliegen. Eine zukünftige europäische Armee – und in einem ersten Schritt die „Armee der Europäer“ – muss eine Parlamentsarmee sein. Die ständige strukturierte Zusammenarbeit im militärischen Bereich (PESCO) kann zu effizienteren und harmonisierenden Strukturen führen. Sie stellt keine Konkurrenz zur NATO dar, da sie nach unserer Überzeugung einem anderen Ziel dient – nicht der Bündnisverteidigung, sondern der Schaffung einer Verteidigungsunion bis hin zur Entstehung einer europäischen Armee. Allerdings sind wir der Überzeugung, dass der Fokus der Zusammenarbeit nicht auf Rüstungsfragen liegen darf. Vielmehr muss der militärische Aspekt in den Rahmen einer strategischen Friedens- und Entwicklungspolitik eingebettet werden. Eine Steigerung der Verteidigungsausgaben anhand starrer Prozentsätze lehnen wir ab. Darin sehen wir keinen strategischen Ansatz zur Bewältigung der globalen Probleme. Bei der von uns befürworteten ganzheitlichen Betrachtung muss es vielmehr darum gehen, ein schlüssiges und durchfinanziertes Gesamtkonzept mit dem Vorrang des Politischen und Zivilen zu erarbeiten und umzusetzen. Als wichtiger Schritt hierzu muss möglichst schnell eine der PESCO vergleichbare Struktur im zivilen Bereich verwirklicht werden. Die Europäische Union muss eine Friedensmacht bleiben. Daher muss das 2014 ins Leben gerufene Europäische Friedensinstitut (European Institute for Peace, EIP) auch von Deutschland unterstützt werden.

 

Auslandseinsätze im Rahmen der Europäischen Union dürfen nur mit UN-Mandat durchgeführt werden. Bestehende Atomwaffenarsenale europäischer Mitgliedstaaten sind von einer Nutzung im Rahmen der Europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausgeschlossen. Vielmehr sollen gemeinsame Schritte zu einer nuklearen Abrüstung unternommen werden. Ziel muss es sein, die Stationierung von Nuklearwaffen in ganz Europa und seiner Nachbarschaft zu beenden.

 

In der Europäischen Union soll ein hohes gemeinsames Niveau von Rüstungsexportbeschränkungen gelten.

 

Alle Exporte von Rüstungsgütern einschließlich der Genehmigung von Produktionslizenzen dürfen – über die bisherigen Beschränkungen hinaus – nur noch in Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in solche Staaten gestattet sein, bei denen der Verbleib der Rüstungsgüter sichergestellt ist, in denen die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie gewahrt werden, die keine systematischen Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen begehen und die nicht an völkerrechtswidrigen kriegerischen Konflikten beteiligt sind. Dabei gilt- unter diesen Voraussetzungen – dem Selbstverteidigungsrecht Israels, mit dem uns eine besondere historische Verantwortung verbindet, auch in dieser Hinsicht unsere ausdrückliche Solidarität.

Die Zuständigkeit für die deutsche Genehmigung von Exporten und Produktionslizenzen muss vom Bundessicherheitsrat auf ein parlamentarisches Gremium verlagert werden, das nach transparenten und demokratischen Grundsätzen entscheidet.“

 

Unabhängig davon müssen Waffenexporte generell deutlich und dauerhaft reduziert werden. Insbesondere Kleinwaffenexporte in Nicht-EU-Staaten werden verboten.

 

Deutschland muss sich im Verbund mit seinen europäischen Partnern für einen ständigen Sitz der Europäischen Union im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einsetzen.

 

4. Frieden durch Entwicklung

Zu einer strategischen Friedenspolitik der Europäischen Union gehört auch eine kohärente Entwicklungspolitik. Die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten müssen in einer gemeinsamen entwicklungspolitischen Strategie zusammengeführt werden. Hierdurch werden Lücken und Doppelungen vermieden. Die gemeinsame Strategie muss einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen. Nachhaltige Entwicklungspolitik berücksichtigt den Schutz der universellen Menschenrechte, soziale und ökologische Standards und die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), achtet auf gute Regierungsführung und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Sie berücksichtigt traditionelle Landrechte und fördert eine regionale Versorgung mit Agrargütern auf der Basis von Kleinbauern und Kooperativen. Sie fördert Frauen – etwa auch über die Vergabe von Mikrokrediten –, schützt die Kinderrechte sowie „sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ (SRHR). Sie fördert nationale Systeme der Daseinsvorsorge einschließlich des Bildungswesens sowie den Handel. Die Entstehung einer Abhängigkeit von den Entwicklungsgeldern ist zu vermeiden. Vielmehr muss das Ziel sein, die Staaten zu einer eigenständigen Entwicklung zu befähigen. Durch eine Verlagerung der Wertschöpfungskette in die Ursprungsländer von Rohstoffen werden regionale Wirtschaftsräume gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen.

 

Wir stehen für Fairness in der internationalen Handels-, Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik. Die Partnerschaftsabkommen der Europäischen Union mit den afrikanischen Staaten (Economic Partnership Agreements) müssen daraufhin überprüft werden, ob sie der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den betroffenen Entwicklungsländern dienen oder Abhängigkeiten weiter zementieren. Auch in dem Nachfolgeabkommen zu dem Vertrag von Cotonou sind die beschriebenen Kriterien einer nachhaltigen Entwicklungspolitik zu berücksichtigen. Ungleiche Handelsbeziehungen, bei denen europäische Produkte insbesondere im Agrarbereich einen unfairen Marktvorteil in den Entwicklungsländern erlangen, müssen vermieden werden. Wir wollen Afrika bei der Schaffung einer afrikanischen Freihandelszone unterstützen und darüber hinaus regionale Verbünde stärken. Handelsabkommen mit wirtschaftlich starken Staaten oder Regionen dürfen keine nachteiligen Auswirkungen zulasten der sich entwickelnden Länder des Südens haben.

 

Die eingesetzten Mittel der europäischen Entwicklungszusammenarbeit müssen einem effektiven Monitoring unterliegen und es muss sichergestellt sein, dass sie nicht zweckentfremdet werden; die DAC-Kriterien der OECD sind einzuhalten. Keinesfalls dürfen Entwicklungsgelder für militärische Zwecke eingesetzt werden. Die Umwidmung entwicklungspolitischer Finanzmittel für sicherheitspolitische Aufgaben darf nicht fortgesetzt werden. Zudem darf Entwicklungshilfe nicht mit der Eindämmung von Migration gekoppelt werden, sondern muss sich am Bedarf und an den Kriterien einer nachhaltigen Entwicklungspolitik orientieren. Das gilt insbesondere auch für die Sahel-Staaten (G5 und andere).

 

Das Europäische Parlament muss auch im Bereich der Entwicklungspolitik gestärkt werden. Insbesondere muss der Europäische Entwicklungsfonds (EEF) in das EU-Budget eingegliedert werden. In der ODA-Quote dürfen nicht die Aufwendungen für Flüchtlinge berücksichtigt werden. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union darf nicht dazu führen, dass die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit sinken. Vielmehr müssen die verbleibenden Mitgliedstaaten ihre Beiträge angemessen erhöhen. Das gilt insbesondere auch für diejenigen Mitgliedstaaten, die bisher nur verhältnismäßig geringe Beiträge zur Entwicklungszusammenarbeit geleistet haben.

EU-01 Für mehr Nachhaltigkeit in Europa durch eine europäische CO2-Steuer

27.04.2018

Viele europäische Großstädte leiden unter einer durch Verkehr und Industrie verursachten Luftverschmutzung und die Folgen des Klimawandels sind auch für uns in Europa bereits jetzt spürbar. Um zukünftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt zu erhalten, sind grundlegende Änderungen erforderlich, die sich nicht auf die Nationalstaaten beschränken können. Ein Baustein dafür ist auf europäischer Ebene eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Finanzpolitik.

 

Die SPD fordert daher eine gerechte und verursacherorientierte europäische CO2-Steuer und damit die Abschaffung umweltschädlicher Subventionen bei der Verwendung fossiler Energieträger. Denkbar ist eine Ausgestaltung als eigene Steuer der EU, die dem Budget der EU zufließen und somit für europäische Investitionen im Rahmen der Umwelt- und Klimapolitik zur Verfügung stehen würde.