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EU-05 Zehn Jahre Krise sind genug - Den Euro demokratisieren und eine progressive europäische Wirtschafts-, Industrie- und Handelspolitik schaffen

16.05.2018

Der Zustand der Europäischen Union lässt sich seit einigen Jahren zunehmend mit dem Spruch „Gestern noch vor dem Abgrund, heute schon einen Schritt weiter“ beschreiben. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise vor zehn Jahren keimen kontinuierlich neue Krisenherde auf, die nicht nur zu wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen innerhalb der Union, sondern auch zu einem Vertrauensverlust in die europäischen Institutionen und die europäische Idee und dem Erstarken des Nationalismus geführt haben. Den traurigen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das Votum der Brit*innen gegen die EU-Mitgliedschaft im Juni 2016 dar. Seit dem Brexit-Votum befindet sich die Europäische Union in ihrer wohl schärfsten Krise seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957. Konnte die EU bislang Krisen immer zur Vertiefung der europäischen Integration nutzen, besteht nun zum ersten Mal bei einer Häufung der Krisenherde – neben dem Brexit sind vor allem die Euro-Krise, das Scheitern einer solidarischen Verteilung von Geflüchteten, der Krieg in der Ukraine und die Wahlerfolge nationalistischer Parteien zu nennen – ernsthaft die Möglichkeit des Scheiterns des Europäischen Projektes.

In dieser Situation reicht ein politisches Spannungsfeld zwischen rechten und linken Antieuropäer*innen und proeuropäischen Marktliberalen nicht aus. Die europäische Integration ist als supranationales Projekt der Weg, mit dem im Zeitalter des zunehmend globalisierten Kapitalismus und der längst ausgehöhlten Nationalstaaten demokratische Kontrolle über die freien Märkte erlangt werden kann. Funktionieren kann das aber nur, wenn es zu keinem Stillstand der Integration kommt, wie ihn etwa Wolfgang Schäuble fordert. Die Fortsetzung der europäischen Integration kann nur mehr Demokratie und mehr Gerechtigkeit heißen.

Demokratie und Gerechtigkeit sind hierbei nicht zwei voneinander losgelöste Ziele, sondern hängen eng zusammen. Ein demokratischeres Europa heißt auch, die Menschen in die europäischen Entscheidungen einzubinden, die wirtschaftlich zunehmend abgehängt werden. Der Kampf etwa gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa muss weiterhin zentraler Bestandteil einer jeden europapolitischen Debatte bleiben.

Der aktuelle Diskurs zu Strategien, wie man die Arbeitslosigkeit in Südeuropa senken kann, orientiert sich hegemoniell an der neoliberalen Strategie der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Europas. Die Folge ist, dass vor allem in Südosteuropa unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit die Arbeitnehmer*innen- und Gewerkschaftsrechte zunehmend geschwächt werden, um gerade in exportabhängigen Wirtschaften die Sozialstandards und Lohnkosten zu drücken.

Investitionen in Forschung und Entwicklung auch für die europäische Peripherie sind unerlässlich. Die Stärkung der europäischen Peripherie ohne eine Schwächung des Zentrums ist bedeutsam, um die Fliehkräfte innerhalb EU zu bremsen und das Problem der Abwanderung aus der europäischen Peripherie zu adressieren. Um diese Ziele umzusetzen, reichen Reformen der zumeist nach nationalstaatlichen Interessen geleiteten europäischen Wirtschaftspolitik nicht aus. Notwendig sind Reformen der europäischen Institutionen. Die Reform einer Union aus 28 – ohne Großbritannien 27 – Staaten ist in dieser Lage dermaßen komplex, dass eine Konzentration auf die Integrationsvertiefung und die Institutionalisierung der Eurozone sinnvoll erscheint. Wobei wir unter Eurozone auch alle “willigen” Staaten verstehen, die den Euro mittelfristig einführen wollen und werden. Allerdings lassen sich viele der später beschriebenen Reformvorschläge auch auf die ganze Union ausweiten, sodass die Eurozone als Kerneuropa nicht zu einer geschlossenen Gesellschaft werden darf, sondern auch für Länder der europäischen Nicht-Euro-EU offen stehen muss.

Um die Integration der Eurozone voranzutreiben, muss die Eurozone als politische, wirtschaftliche und soziale Union ausgebaut werden. Als politische Union müssen die Entscheidungswege der Eurozone nicht nur effektiver, sondern auch demokratischer gestaltet werden. Als wirtschaftliche Union braucht die Eurozone Wachstum, das es nur mit mutigen Investitionen und einer Stärkung der gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz-, und Haushaltspolitik gibt. Und als soziale Union müssen Umverteilungsmechanismen die zunehmende Ungerechtigkeit sowohl innerhalb als auch zwischen den Mitgliedsstaaten bekämpfen.

Eine besondere Aufgabe fällt in dieser Lage der europäischen Sozialdemokratie zu. Nur wenn die Sozialist*innen in Europa ihrem internationalistischem Anspruch gerecht werden und für ein solidarisches Europa und nicht für die Vertretung nationaler Interessen kämpfen, können sie die Zukunft eines demokratischeren und gerechteren Europas gestalten.

Um die Eurozone demokratischer und gerechter zu gestalten, schlagen wir folgende Instrumente vor:

  • Die Schaffung einer Euro-Finanzminister*in und einer Euro-Kammer im EU-Parlament. Es ist an der Zeit, den Geburtsfehler des Euro zu beheben: Eine gemeinsame Währung kann ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht funktionieren. Die hier geforderte Kompetenzverlagerung in die Eurozone muss, wenn sie demokratisch legitimiert sein will, durch demokratische Institutionen geschehen. Deshalb plädieren wir für die Schaffung einer Euro-Finanzminister*in, die die gemeinsame Politik koordiniert, und einer Euro-Kammer im EU-Parlament. Die Euro-Kammer setzt sich als Ausschuss des EU-Parlamentes aus EU-Parlamentarier*innen der Länder der Eurozone zusammen. Ihre Beschlüsse werden im EU-Parlament beraten und beschlossen. Die Euro-Finanzminister*in wird durch die Euro-Kammer gewählt und demokratisch kontrolliert. Eine Euro-Kammer hat gegenüber einem eigenen Euro-Parlaments den Vorteil, dass die Abgrenzung zwischen Eurozone und Europäischer Union weniger stark ausfällt und so die Integration von Nicht-Euroländern leichter fällt. Zusätzlich können Vertreter*innen nationaler Parlamente nicht stimmberechtigte Mitglieder der Euro-Kammer sein. Vertreter*innen von Nicht-Euro-Staaten können der Euro-Kammer mit Beobachtungsstatus angehören. Von diesem Reformschritt muss ein klares Signal der Offenheit der Euro-Zone ausgehen. Auch der Eindruck einer Abgrenzung gegenüber den EU Mitgliedern außerhalb des Euro muss vermieden werden.
  • Die Schaffung eines Eurozonen-Budgets, finanziert aus einem Anteil der endlich umzusetzenden Finanztransaktionssteuer, einem Anteile der nationalen Körperschaftssteuern oder weniger schwankungsanfälligen Steuern und möglicherweise zusätzlich aus einer eigenen konjunkturabhängigen Eurozonen-Steuer oder Beiträgen der Eurozonen-Staaten. Das Budget sollte für Investitionen in Infrastrukturprojekte und für den Aufbau eines europäischen Sozialsystems verwendet werden.
  • Die Schaffung einer europäischen Arbeitslosenversicherung und eines europäischen Kurzarbeiter*innengeldes aus Mitteln des Eurozonen-Budgets. Die europäische Sozialpolitik wird aufgrund der starken Unterschiede der Sozialstaatsmodelle in den Mitgliedsstaaten zunächst nicht die nationale Sozialpolitik ersetzen können. Ziel dieser Politik muss es deshalb sein, die nationalen Sozialschutzsysteme einander anzunähern. Eine europäische Arbeitslosenversicherung bietet sich an, um die sozialen Transfers von reicheren zu ärmeren Eurozonen-Staaten zu organisieren. So können bei asymmetrischen ökonomischen Schocks und hoher Arbeitslosigkeit in einzelnen Euro-Staaten die nationalen Sozialsysteme entlastet werden. Wichtig sind dabei klare Regelungen, sodass die europäische Arbeitslosenversicherung nicht als Anreiz zu weniger Bekämpfung struktureller Arbeitslosigkeit gesehen werde kann. Es muss also klare Kriterien und zeitliche Befristungen geben.

Weil für die Umsetzung einer solchen europäischen Arbeitslosenversicherung ein langer Weg notwendig ist, ergibt es Sinn, im Vorgriff schon ein europäisches Kurzarbeiter*innengeld nach deutschem Vorbild einzuführen. Mit diesem Mittel können Arbeitnehmer*innen, ergänzend zu den unterschiedlichen nationalen Kurzarbeiter*innenzahlungen, bei konjunkturell bedingtem Arbeitsausfall zeitlich begrenzt Zahlungen für ausfallende Arbeitsstunden erhalten. Verbinden lassen sich diese Zahlungen auch mit dem EU-Globalisierungsfonds, sodass die Weiterbildung von Arbeitnehmer*innen in Kurzarbeit stärker bezuschusst werden kann.

  • Mehr Investitionen in die Zukunft Europas. Die Austeritätspolitik, die in den vergangenen Jahren besonders von der deutschen Bundesregierung durchgesetzt wurde, führt vor allem im Süden Europas zu katastrophalen Wachstumseinbrüchen. Arbeitslosigkeit und eine noch höhere Staatsverschuldung sind die Folge. Um vor allem die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Staatsschulden langfristig und nachhaltig zu sanieren, bedarf es stärkerer europäischer Investitionen. Außerdem werden Maßnahmen benötigt, die die Binnennachfrage in den Staaten mit exzessivem Leistungsbilanzüberschuss, der zulasten von anderen Ländern geht, stimulieren.
  • Ein begrenztes Umschuldungsprogramm, in dem die Staaten der Eurozone gesamtschuldnerisch für die Staatsverschuldung bis zur Maastricht-Grenze von 60 Prozent des BIP haften.
  • Einen Pakt für europäische Mindestlöhne, der Korridore für faire Mindestlöhne gemessen am Durchschnittseinkommen in den Mitgliedsstaaten festlegt sowie Mindeststandards für nationale Systeme der Mindestsicherung und die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen.
  • Die Koordinierung der europäischen Steuerpolitik um Steuerdumping zu bekämpfen.
  • Eine Verbesserung der Abstimmung zwischen den Sozialpartner*innen auf Eurozonen- Ebene. Dafür ist eine stärkere Einbindung der Sozialpartner*innen in das Europäische Semester notwendig. Außerdem muss die europäische Mitbestimmung ausgeweitet und europäische Koordinierungsinstrumente zwischen den Sozialpartnern aufgebaut werden. Ein wichtiger Schritt dazu ist eine Europäische Säule sozialer Rechte, die soziale Grundrechte in den EU-Verträgen rechtlich auf die gleiche Ebene stellt wie die vier wirtschaftsliberalen Grundfreiheiten des Binnenmarktes. Das Hauptaugenmerk der verbesserten Abstimmung der Sozialpartner*innen muss auf koordinierten Lohnsteigerungen, der Steigerung der europäischen Investitionen und einem gerechten Übergang ins Zeitalter der Digitalisierung liegen.
  • Die Überführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus in Gemeinschaftsrecht und die Weiterentwicklung zu einem Europäischen Währungsfonds.
  • Implementierung einer nachfrageorientierten Wende in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik in Europa statt Anreize für strukturelle Angebotspolitik z.B. als Folge einer Steigerung des Wettbewerbsdrucks durch das Abschließen von Freihandelsabkommen mit anderen Volkswirtschaften/ Wirtschaftsräumen, mit denen keine gemeinsame Ebene für demokratische Repräsentation etabliert ist. Ein demokratisches Europa, in dem nachfrageorientierte Fiskal- und Wirtschaftspolitik umgesetzt wird ist die Grundlage für gute Arbeit, fairen Welthandel und die Verminderung der Fliehkräfte zwischen dem Zentrum und der Peripherie Europas.
  • Einen politischen Vorrang für die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes vor internationalen Freihandelsabkommen.
  • Schaffung einer aktiven Innovationspolitik für die Europäische Union, die die Problematik des „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ berücksichtigt, indem die dezentrale Förderung von wettbewerbsfähigen Innovations-Clustern gefördert wird. Positive historische Beispiele für gemeinschaftliche Projekte stellen zum Beispiel Airbus oder auch die Förderung der europäischen Raumfahrtindustrie im Rahmen der Aktivitäten der Europäischen Weltraumorganisation ESA dar.
  • Langfristig verfolgen wir das Ziel, dieses System abzulösen und alle Entscheidungen direkt durch das Europaparlament zu fällen.

EU-04 Europa: Solidarität statt Austerität

2.05.2018

In den letzten Jahren haben sich immer mehr BürgerInnen von der Europäischen Union abgewendet. Einer Union, die in wichtigen Fragen uneinig wirkt, die scheinbar nur einigen Wenigen nützt, die einseitig auf Marktliberalisierung und Kapitalverkehrsfreiheit setzt und in der der Solidarität zwischen Stärkeren und Schwächeren scheinbar kein eigener Wert zukommt. Diese Entwicklung ist gefährlich: Sie untergräbt nicht nur die Akzeptanz einer Institution; sie bedroht die Entwicklung eines europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells insgesamt.

 

Ein Kurswechsel tut Not. Die Sozialdemokratie in Europa hat sich in den letzten Jahren zwischen die Alternativen neoliberales Markteuropa auf der einen und den Rückzug in die Grenzen nationalstaatlicher Politik auf der anderen Seite zwängen lassen. Aber diese Alternativen sind beide auf Dauer schlecht für die Menschen in Deutschland und in Europa. Wir wollen endlich einen Neuanfang für ein neues, ein sozialeres und demokratischeres Europa.

 

Gerade die Bundesrepublik hat unter der Führung von Angela Merkel mit Fokussierung auf Exporte und dem Beharren auf „Haushaltsdisziplin“ in den letzten Jahren einen  sozialen Aufbruch in der europäischen Gemeinschaft verhindert. Die Abkehr vom Dogma der „Schwarzen Null“ hierzulande ist Voraussetzung für eine andere Politik in ganz Europa und eine Stärkung aller progressiven Kräfte.

 

Die Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion müssen beseitigt und die EU zu einer politischen Union mit einer starken sozialen Dimension weiterentwickelt werden. Europa muss auf Solidarität und Investitionen statt auf Austerität (strikte Sparpolitik und Einschränkung der Staatstätigkeit) setzen. Wir brauchen gemeinsame Sozialstandards, die an die Lebensbedingungen, die wirtschaftliche Kraft und die sozialstaatlichen Traditionen der jeweiligen Länder und Regionen anknüpfen, aber zugleich zur sozialen und wirtschaftlichen Konvergenz beitragen. Ein solches Europa und die damit verbundenen Anstrengungen und gegenseitigen Verpflichtungen werden sich aber nur durchsetzen lassen, wenn die Menschen umfassend mitbestimmen können. Ohne Demokratisierung keine Vertiefung der innereuropäischen Beziehungen!

 

Konkret fordern wir:

I. Arbeit und Soziales – Europas Akzeptanz steht auf dem Spiel

  • Wir wollen verbindliche Mindeststandards im Bereich der Sozialpolitik, wie z.B. gemeinsame Prinzipien bei der Festsetzung nationaler Mindestlöhne (z.B. in Abhängigkeit von nationalen Durchschnittseinkommen oder Rentenniveaus). Es kann nicht sein, dass ArbeitnehmerInnen aus verschiedenen europäischen Ländern weiter gegeneinander ausgespielt werden.
  • Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit braucht es europäische Programme zur Förderung von Ausbildung und Qualifizierung (z.B. finanzielle Beihilfen zur Einführung von dualen Ausbildungssystemen).
  • „Mitbestimmungsdumping“ muss aufhören. Wir brauchen gemeinsame Regeln für die effektive und grenzüberschreitende Mitbestimmung von ArbeitnehmerInnen. Es gibt keinen Grund für nationale Parzellierung von Arbeitnehmervertretungen in transnationalen Unternehmen, die in einem gemeinsamen Markt agieren. Europäische Betriebsräte müssen echte Mitbestimmungsrechte bekommen.
  • Die Entsenderichtlinie muss überprüft, um Mißbrauchstatbestände erweitert und diese müssen effektiv sanktioniert werden. Solange keine hinreichende Konvergenz von Arbeits- und Lebensbedingungen gegeben ist, können Arbeitnehmerfreizügigkeit und Entsendung (mit sozialversicherungsrechtlichen Befreiungen) zum Zwecke des Sozialdumpings missbraucht werden.
  • Einheitliche und hohe Mindeststandards im Bereich des Arbeitsrechts müssen ausgebaut werden. Nationale Standards des Arbeitnehmerrechts und der Arbeitnehmermitbestimmung dürfen durch europäische Gesetzgebung nicht abgesenkt werden.

 

II. Steuern und Haushalt – Solidarität ist keine Einbahnstraße

  • Wir brauchen eine vom Europäischen Parlament gewählte Europäische Wirtschaftsregierung, die eine gemeinsame Wirtschaftspolitik verantwortet. Ein europäischer Finanzminister, der nur die bisherige Spar- und Austeritätspolitik ohne volle demokratische Verantwortung gegenüber dem Europäischen Parlament noch machtvoller durchsetzt, wird zum Totengräber der EU. Fiskalische (haushaltsrechtliche) ohne demokratische Kontrolle lehnen wir ab.
  • Die Länder der Eurogruppe sowie die Länder, die dazu bereit sind, sollten notfalls im Wege der verstärkten Zusammenarbeit verbunden mit umfassender Kontrolle durch das Europäische Parlament im Bereich einer einheitlichen Finanz- und Steuerpolitik vorangehen. Wer nicht mitmacht, kann auch nicht von gemeinsamen Ausgaben profitieren (z.B. Investitionsprogrammen, Kohäsions- und Strukturfonds, Transfermechanismen der Währungs- und Geldpolitik etc.).
  • Die Finanztransaktionssteuer muss endlich kommen.
  • Ertragssteuern sind dort zu erheben, wo Wertschöpfung stattfindet (und insbesondere dort, wo ArbeitnehmerInnen beschäftigt werden). Dies funktioniert nur, wenn die EU maßgeblich durch das Europäische Parlament verantwortete Zuständigkeiten im Bereich der direkten Steuern bekommt, damit sie Kohärenz (Vergleichbarkeit und Abgestimmtheit) der nationalen Steuersysteme aktiv fördern und Steuerdumping vorbeugen kann. Bilaterale Vereinbarungen (Doppelbesteuerungsabkommen) müssen durch europäische Regeln ersetzt werden, um Schlupflöcher und Umgehungsmöglichkeiten zu beenden. Die Regeln zur Begrenzung der Gewinn- und Verlustverschiebung müssen weiter präzisiert und verschärft werden. Für die Einhaltung und Durchsetzung dieser Regeln sollten nicht (nur) die nationalen Steuerbehörden, sondern (auch) die EU-Kommission zuständig sein. Wie die Apple/Starbucks/Amazon-Fälle zeigen, ist nur durch eine übergeordnete Instanz eine effektive Durchsetzung gewährleistet.
  • Die gemeinsame konsolidierte Bemessungsgrundlage muss endlich kommen. Die vorliegenden Vorschläge gehen nicht weit genug und müssten um wesentliche Aspekte ergänzt werden (z.B. EU-weit gleiche Abschreibungsmöglichkeiten, Höchstgrenzen zur steuerlichen Abzugsfähigkeit von Managervergütungen, in Abhängigkeit von den untersten Lohngruppen im jeweiligen Unternehmen).
  • Wir brauchen mittelfristig EU-weit verbindliche Mindeststeuersätze.

 

  • Ausnahmetatbestände im Umsatzsteuerrecht müssen radikal reduziert und vereinheitlicht werden, um Umgehungen und Betrügereien vorzubeugen.
  • Es sollten EU-weite Höchstsätze bei Umsatzsteuern vereinbart werden. Die schleichende Umverlagerung von Unternehmens- und Ertragssteuern auf Umsatzsteuern in den letzten Jahrzehnten ging zu Lasten der einkommensschwächeren Bevölkerungsteile. Dieser Trend muss europaweit gestoppt werden.

 

III. Investitionen und Wachstum statt Austeritätspolitik

  • Europa braucht eine Abkehr von der sozial verheerenden Austeritätspolitik insbesondere in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit. Es müssen andere, neue Wege gefunden werden, um die öffentliche Verschuldung in ein ausgewogenes Verhältnis zur Wirtschaftsleistung und zum öffentlichen Vermögen zu bringen (Schuldenerlass, Vermögensabgaben, Fonds- bzw. Tilgungsfondslösungen, Reichensteuern o.ä.).
  • Europa braucht Investitionen gegen die Arbeitslosigkeit, insbesondere in Ausbildung und Qualifizierung, sowie in Programme zur Unterstützung des Strukturwandels in ärmeren Mitgliedstaaten. Sinnvoll sind auch grenzübergreifende Bildungs-, Fortbildungs- und Ausbildungsprogramme, die neben dem Arbeitsmarkt auch den Austausch von Bürgerinnen und Bürgern aus verschiedenen Mitgliedstaaten fördern.
  • Es muss mehr Investitionen in Infrastruktur geben: digitale, sowie Energie- und Transportnetze (inkl. E-Mobilität). Diese Infrastruktur hat grenzübergreifenden Nutzen und sollte daher gemeinsam finanziert werden.
  • Die Mittelzuteilung für die Integration von Flüchtlingen muss solidarisch organisiert und Teil der Budgetverhandlungen werden.
  • Die Rekommunalisierung von privatisierten Betrieben darf nicht durch europäisches Wettbewerbs- Beihilfen- oder Vergaberecht praktisch vereitelt werden; entsprechende Regeln müssen überprüft und durch Ausnahmetatbestände bzw. Freigabemechanismen ergänzt werden.

 

Europa steht vor großen Herausforderungen, von innen wie von außen. Diese lassen sich nur gemeinsam lösen. Das Fundament der europäischen Gesellschaftsordnung ruht auf sozialem Ausgleich, Teilhabe und Chancengleichheit. Nur wenn es der Europäischen Union gelingt, diese Solidarität auch in Zukunft zu organisieren, kann sie dauerhaft Bestand haben.

EU-03 Die EU auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie

27.04.2018

Die Forderung nach einem Europa der Demokratie und des lebendigen Parlamentarismus ist durch den Koalitionsvertrag zum Regierungsprogramm geworden und das Streben nach den Vereinigten Staaten von Europa begleitet die deutsche Sozialdemokratie bereits seit 1925. Diese Leitlinien und Zielvorstellungen gilt es nun mit politischem Leben zu füllen. Die SPD hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Demokratie in der Europäischen Union zu stärken und die Bürgerinnen und Bürger wieder verstärkt für die europäische Idee zu gewinnen. Für konkretes politisches Handeln bedeutet das, dass sich die EU von einer Kultur der technokratischen und verhandlungsbasierten Politikgestaltung hin zu einem System der politischen Auseinandersetzung und des politischen Wettbewerbs entwickeln muss. Politisierung und Demokratisierung gehen Hand in Hand; Parteien und Parlamente sind in einer repräsentativen Demokratie ihre zentralen Akteure. In diesem Sinne werden die sozialdemokratischen Verantwortlichen in der Bundesregierung, im Bundestag, im Europäischen Parlament und in der Partei selbst aufgefordert, in ihrer Arbeit die im Folgenden skizzierten Ziele maßgeblich zu verfolgen.

 

Echte Europäische Parteien und richtige Europawahlen

Für die demokratische Gestaltung sind Parteien unverzichtbar. Das gilt auch für die europäische Ebene. Parteipolitische Mitwirkung verlangt jedoch auch nach innerparteilicher Willensbildung und Mitbestimmung, die nur durch die Mitglieder einer Partei gewährleistet werden kann. In diesem Sinne soll sich die SPD als eine der größten Mitgliedsparteien in der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) für die Möglichkeit und satzungsgemäße Verankerung der individuellen Mitgliedschaft natürlicher Personen in der SPE einsetzen und sie somit zu einer beispielgebenden prototypischen Europäischen Partei weiterentwickeln. Die SPD soll außerdem darauf hinwirken, dass das Parteienstatut der Europäischen Union insofern geändert wird, als die individuelle Mitgliedschaft zu einer der Voraussetzungen für die Anerkennung als Partei auf europäischer Ebene wird.

Um den Willen der Bürgerinnen und Bürger Europas auch auf parlamentarischer Ebene abbilden zu können, bedarf es einer möglichst unmittelbaren Übersetzung des durch Wahlen ausgedrückten Willens in politische Mehrheiten. Die nach wie vor mit einem nationalen Charakter behafteten Wahlen zum Europäischen Parlament müssen daher konsequent europäisiert werden. Das erfordert die Einführung eines einheitlichen, europaweiten Wahlrechts, durch das 50 Prozent der zu vergebenden Mandate über transnationale Parteilisten bestimmt und die übrigen Mandate in den Mitgliedsstaaten nach europaweit einheitlichen Verfahren vergeben werden. Durch ein solches System wird der Gedanke der nationenübergreifenden Tragweite europapolitischer Entscheidungen und der davon ableitbaren erforderlichen Solidarität zwischen den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten betont und verstärkt.

 

Starke Demokratie durch ein starkes Parlament

Der nun wirklich europäische Charakter der Europawahlen würde die an vielen Stellen geforderte Stärkung des Europäischen Parlaments als unmittelbares Repräsentationsorgan der europäischen Bürgerinnen und Bürger auf eine neue Stufe heben. Um jedoch der Wahl die angemessene Bedeutung zu verleihen, muss auch das Parlament selbst über signifikant stärker ausgeprägte und ausgebaute Rechte verfügen, um dem demokratischen Willen, der durch die Europawahlen zum Ausdruck gebracht wurde, gerecht zu werden:

 

  • Neben der Wahl der Kommissionspräsidentin/ des Kommissionspräsidenten und der Bestätigung der Kommission im Ganzen muss das Europäische Parlament das Recht erhalten, mit der Mehrheit seiner Stimmen die Kommission durch die Wahl einer neuen Kommissionspräsidentin/ eines neuen Kommissionspräsidenten abzuwählen und zu ersetzen (konstruktives Misstrauensvotum). Dieses Recht verstärkt den politischen Charakter der Kommission und macht sie mittelbar von der Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger durch ihre parlamentarischen Repräsentanten abhängig. Gleichzeitig wird die Tendenz zur festen Koalitionsbildung im Europäischen Parlament als Ausdruck gesellschaftlich-politischer Mehrheiten verstärkt.

 

  • Der politische Charakter der Kommission als Quasi-Regierung der Europäischen Union muss darüber hinaus verstärkt werden, indem ihre Struktur an die Erfordernisse effektiven Regierens angepasst wird. Das bedeutet zum einen die Notwendigkeit zur deutlichen Reduzierung der Anzahl der Kommissarinnen und Kommissare, zum anderen die Rekrutierung des führenden Kommissionspersonals aus den Reihen der Europäischen Parteien. Das schließt das Spitzenkandidatenmodell ausdrücklich mit ein. Um auch weiterhin alle Nationalitäten berücksichtigen zu können, werden die Ämter der Kommissarinnen und Kommissare sowie der Generaldirektorinnen und Generaldirektoren gleichermaßen für den Verteilungsschlüssel herangezogen.

 

  • Das Europäische Parlament muss mit einem dem der Kommission gleichgestellten Initiativrecht ausgestattet werden, das es mit einer Anzahl von Abgeordneten, die den Bedingungen zur Fraktionsbildung entspricht, ausüben kann.

 

  • Das Recht, über die Verteilung der EU-Mittel zu entscheiden und den Haushalt zu beschließen, muss vollständig auf das Europäische Parlament übergehen.

 

  • Um die von ihm abhängige Kommission besser kontrollieren zu können, bedarf es neben den bereits bestehenden Auskunftsrechten des Europäischen Parlaments zusätzlich des Rechts, einzelne Kommissionsmitglieder bindend in das Plenum oder einzelne Ausschüsse des Parlaments zu laden und dort zu befragen.

 

Demokratie braucht Transparenz

Es besteht große Einigkeit darüber, dass das Entscheidungssystem der EU zu komplex ist, um von politisch interessierten Bürgerinnen und Bürgern nachvollzogen und verstanden werden zu können. Ziel einer institutionellen Demokratisierung muss es also sein, Komplexität zu reduzieren und politische Prozesse und Verantwortlichkeiten transparent zu gestalten. Dazu bedarf es einer Verfassung, die nicht nur das Zusammenspiel der Organe regelt, sondern auch deutliche und sinnvoll hergeleitete Aussagen über die Zuständigkeiten der verschiedenen Ebenen (EU, Mitgliedsstaaten, subnationale Ebenen) trifft. Verfassungsprinzip darf nicht – wie bisher – die Erfüllung bestimmter Ziele sein, sondern die Abgrenzung der Zuständigkeiten nach Politikfeld.

Die politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen der letzten siebzig Jahre machen es erforderlich, über eine Neuordnung der Kompetenzzuteilung zwischen Europäischer Union, ihren Mitgliedsstaaten und deren subnationalen Gebietskörperschaften zu verhandeln. Maßgeblich müssen dabei die Prinzipien der Transparenz und logischen Nachvollziehbarkeit sowie der Subsidiarität in ihrer vollen Konsequenz sein. Die Zuweisung der Kompetenzen muss sinnvoll gemäß den damit verbundenen globalen, nationalen oder regionalen Herausforderungen entsprechend auf die europäische, nationale oder subnationale Ebene erfolgen.

Gleichzeitig müssen mit der Kompetenzneuordnung auch die institutionellen Rahmenbedingungen angepasst werden. Die Gestalt der Europäischen Union sollte sich daher am organisatorischen Leitprinzip eines trennföderalen Systems orientieren. Es gilt, verbundföderale Strukturen, die die Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungswege und Verantwortung erschweren, möglichst weitgehend abzubauen. Einzuführen sind in diesem Zusammenhang die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz jeweils für die Mitgliedsstaaten und die Europäische Union sowie das Recht zur Rahmengesetzgebung für die EU. Für die Einbettung in die parlamentarische Struktur der Europäischen Union muss diese in ein durchschaubares und scharf konturiertes Drei-Kammern-System umgewandelt werden.

Während in diesem System die ersten beiden Kammern an der supranationalen Gesetzgebung beteiligt sind, obliegt der dritten Kammer als Vertretung der Mitgliedstaaten die Fortentwicklung der EU-Verfassung. Die Kammerstruktur der ordentlichen Gesetzgebung auf europäischer Ebene besteht aus:

 

  • dem Europäischen Parlament als supranationaler Vertretung der Bürgerinnen und Bürger und zentraler Gesetzgebungskammer. Perspektivisch muss das Parlament vollständig über transnationale Listen gewählt werden;

 

  • dem Rat der Europäischen Union als transnationaler Vertretung der Bürgerinnen und Bürger in Gestalt eines Europäischen Senats, der in direkter Wahl im nationalen Rahmen gewählt wird und bei dem jedem Mitgliedsstaat gemessen an seiner Bevölkerungsgröße zwischen drei und acht Mandate zustehen. Er wird im Bereich der Rahmengesetzgebung als zweite Kammer beteiligt und fasst seine Beschlüsse mit absoluter Mehrheit.

 

Die dritte Kammer bildet der Europäische Rat in seiner jetzigen Zusammensetzung. Er entscheidet über Vertragsänderungen und -anpassungen und repräsentiert die Mitgliedsstaaten als Herren der Verträge.