EU-02 Eine SPD-Strategie für eine europäische Außen- und Friedenspolitik

Die Weltgemeinschaft befindet sich in einer tiefen Krise. Die Zahl der Kriege und bewaffneten Konflikte hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, man denke nur an die blutigen Auseinandersetzungen in Syrien, Irak, Jemen, Afghanistan sowie in Teilen Afrikas. Auch der Konflikt in der Ukraine dauert an. Die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel verschärfen sich weiter und bedrohen den Weltfrieden. Jedes sechste Kind lebt inzwischen in einem Kriegs- oder Konfliktgebiet. Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht; mehr als jemals zuvor. Humanitäre Katastrophen bahnen sich an oder finden schon statt. Angefeuert wird diese Lage durch geo- und regionalpolitische Rivalitäten, religiösen Fanatismus, autoritäre Regime sowie rechtspopulistische und nationalistische Kräfte.

 

Auch die globale Entwicklung macht geringere Fortschritte als erhofft. Der Kampf gegen den Hunger hat noch keinen Durchbruch erzielt; nach wie vor hungern rund 800 Millionen Menschen, weitere zwei Milliarden Menschen sind aufgrund einseitiger Ernährung fehlernährt. Hunderte Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder zu sanitären Einrichtungen. Hinzu kommt eine drohende Umweltkatastrophe aufgrund des Klimawandels. Dramatisch sind auch der nicht nachhaltige Ressourcenverbrauch, die Verluste an biologischer Vielfalt und die Beeinträchtigungen natürlicher Ökosysteme. Auch die soziale und politische Teilhabe ist in weiten Teilen der Welt nur gering ausgeprägt. Der Zugang zu sozialen Sicherungssystemen und zu Bildungsangeboten ist beschränkt und ungerecht verteilt. Es mangelt in vielen Staaten an guter Regierungsführung.

 

In dieser kritischen Lage verschiebt sich derzeit die internationale Machtbalance: Während die USA ihre nationalen Interessen an die erste Stelle setzen, sich aus der internationalen Verantwortung und Kooperation zurückziehen und um ihre Stellung als stärkste (auch militärisch) Weltmacht kämpfen, gewinnt China mit einer militärisch unterlegten geopolitischen Strategie zunehmend an internationalem Einfluss. Auch Russland verfolgt seine Machtinteressen offensiv und teils mit militärischen Mitteln. Ein neuer atomarer Rüstungswettlauf hat begonnen, der sich auf die Entwicklung kleiner Kernwaffen konzentriert.

 

Es ist daher höchste Zeit, dass sich die Europäische Union ihrer Stärken besinnt und eine aktivere, der Friedensförderung verpflichtete Rolle in der internationalen Politik übernimmt. Die Europäische Union kann stolz auf über 70 Jahre des friedlichen Zusammenlebens ihrer Mitgliedstaaten zurückblicken. In dieser historisch beispiellosen Friedenszeit konnte sich ein Raum der Freiheit entfalten, der durch die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts und durch die Herrschaft des Rechts gekennzeichnet ist, vor allem aber durch die Herausbildung einer freiheitlich-demokratischen Wertegemeinschaft, wie sie etwa in der Grundrechtecharta zum Ausdruck kommt. In wirtschaftlicher Hinsicht vollbrachte die Europäische Union einen beispiellosen Aufstieg aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs zum größten Binnenmarkt der Welt, der fast ein Viertel des globalen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Zugleich konnte in der Europäischen Union – bei allen verbleibenden regionalen Unterschieden und Schwierigkeiten – ein im globalen Vergleich relativ hohes Niveau an sozialen und ökologischen Standards erreicht werden. Auf internationaler Ebene verfügt die Europäische Union als bedeutender Akteur in verschiedenen internationalen Organisationen und Formaten – etwa auch in der G7 und der G20 – sowie mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst schon heute über Gestaltungspotenzial. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten finanzieren zudem mehr als die Hälfte der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit.

 

Das Vakuum, das die USA hinterlassen, darf nicht autoritären und undemokratischen Staaten überlassen werden. Vielmehr muss die Europäische Union diese Situation als Chance begreifen. Als Staatenverbund mit rund 500 Millionen Einwohnern und als führende Wirtschaftsmacht kann sie bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung der globalen Fragen gewinnen. Dies setzt allerdings voraus, dass sie effiziente und schlagkräftige Strukturen aufbaut, Entscheidungsprozesse schlanker und demokratischer gestaltet und dass sie und ihre Mitgliedstaaten auf dem globalen Parkett mit einer Stimme sprechen.

 

Eine so aufgestellte Europäische Union kann einen wirkungsvollen Beitrag dazu leisten, die aktuellen dramatischen Konflikte einzudämmen, dauerhafte Stabilität zu gewährleisten und weltweite Entwicklung zu ermöglichen – und damit die Lebensverhältnisse aller Menschen zu verbessern.

 

Wir fordern daher:

 

1. Aufstellung der Europäischen Union für die internationale Politik

Die Europäische Union muss sich strukturell so aufstellen, dass sie ihre Stärken international bestmöglich einsetzen kann. Die internationale Politik der Europäischen Union muss kohärenter gestaltet werden, gegebenenfalls auch in einem Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Dies schließt sowohl die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als auch die anderen Außenbeziehungen (EU-Kommission) ein. Die EU muss ihre Fähigkeiten der zivilen Konfliktlösung stärken und eine Arbeitseinheit „Friedensförderung“ im Europäischen Auswärtigen Dienst einrichten – zur Entwicklung einer friedenspolitischen strategischen Antwort der EU auf Konflikte.

 

Das Amt der/des Hohen Vertreterin/Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik muss gestärkt werden. Die/Der Hohe Vertreterin/Hohe Vertreter muss für alle zentralen Bereiche der internationalen Politik zuständig sein. Ihre Rolle muss daher über die bloße Koordination der Positionen der Mitgliedstaaten weit hinausgehen. Ihre Beratung muss gleichrangig durch das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) und einen aufgewerteten Ausschuss für die zivilen Aspekte der Krisenbewältigung (Committee for Civilian Aspects of Crisis Management, CIVCOM) erfolgen.

 

Auf dem Gebiet der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik muss anstelle des derzeitigen Einstimmigkeitsprinzips verstärkt mit Mehrheit entschieden werden.

 

2. Außenpolitische Strategie

Die Europäische Union muss die Gesamtheit ihrer Außenbeziehungen an den Zielen der Förderung des Friedens und der nachhaltigen Entwicklung ausrichten und zu diesem Zweck eine entsprechende Strategie einschließlich der dafür zu ergreifenden Maßnahmen erarbeiten. Wir machen eine präventive, umfassende Friedens- und Entwicklungspolitik zum strategischen Schwerpunkt der europäischen Politik. Pfeiler dieser Politik sind die soziale, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit der Agenda 2030.

 

Wir bekräftigen – unbeschadet des gegenwärtigen Rückzugs der USA – die herausragende Bedeutung der transatlantischen Beziehungen. Wir teilen mit den USA und mit Kanada grundlegende Werte und gemeinsame Interessen. Das soll auch so bleiben. Zugleich sind wir davon überzeugt, dass Europa selbstbewusster werden und eine stärkere, eigenständige internationale Rolle übernehmen muss.

 

3. Frieden und Sicherheit

Die Europäische Union muss für ganz Europa eine inklusive Sicherheitsarchitektur anstreben. Zur Wiederbelebung der Entspannungspolitik muss sie vordringlich ein Konzept deeskalierender und vertrauensbildender Maßnahmen vorlegen und sich für die Einberufung einer europäischen Friedenskonferenz (unter Einbeziehung der USA, Kanadas und Russlands) zum frühestmöglichen Zeitpunkt einsetzen. Es muss alles unternommen werden, die sich abzeichnende Gewaltspirale zu stoppen und ein Wettrüsten – sowohl konventionell wie atomar – in Europa zu verhindern. Eine nachhaltige Stärkung der OSZE im Rahmen ziviler Konfliktbewältigung ist anzustreben.

 

Die Europäische Verteidigungsunion muss einer demokratischen und rechtsstaatlichen Kontrolle unterliegen. Eine zukünftige europäische Armee – und in einem ersten Schritt die „Armee der Europäer“ – muss eine Parlamentsarmee sein. Die ständige strukturierte Zusammenarbeit im militärischen Bereich (PESCO) kann zu effizienteren und harmonisierenden Strukturen führen. Sie stellt keine Konkurrenz zur NATO dar, da sie nach unserer Überzeugung einem anderen Ziel dient – nicht der Bündnisverteidigung, sondern der Schaffung einer Verteidigungsunion bis hin zur Entstehung einer europäischen Armee. Allerdings sind wir der Überzeugung, dass der Fokus der Zusammenarbeit nicht auf Rüstungsfragen liegen darf. Vielmehr muss der militärische Aspekt in den Rahmen einer strategischen Friedens- und Entwicklungspolitik eingebettet werden. Eine Steigerung der Verteidigungsausgaben anhand starrer Prozentsätze lehnen wir ab. Darin sehen wir keinen strategischen Ansatz zur Bewältigung der globalen Probleme. Bei der von uns befürworteten ganzheitlichen Betrachtung muss es vielmehr darum gehen, ein schlüssiges und durchfinanziertes Gesamtkonzept mit dem Vorrang des Politischen und Zivilen zu erarbeiten und umzusetzen. Als wichtiger Schritt hierzu muss möglichst schnell eine der PESCO vergleichbare Struktur im zivilen Bereich verwirklicht werden. Die Europäische Union muss eine Friedensmacht bleiben. Daher muss das 2014 ins Leben gerufene Europäische Friedensinstitut (European Institute for Peace, EIP) auch von Deutschland unterstützt werden.

 

Auslandseinsätze im Rahmen der Europäischen Union dürfen nur mit UN-Mandat durchgeführt werden. Bestehende Atomwaffenarsenale europäischer Mitgliedstaaten sind von einer Nutzung im Rahmen der Europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausgeschlossen. Vielmehr sollen gemeinsame Schritte zu einer nuklearen Abrüstung unternommen werden. Ziel muss es sein, die Stationierung von Nuklearwaffen in ganz Europa und seiner Nachbarschaft zu beenden.

 

In der Europäischen Union soll ein hohes gemeinsames Niveau von Rüstungsexportbeschränkungen gelten.

 

Alle Exporte von Rüstungsgütern einschließlich der Genehmigung von Produktionslizenzen dürfen – über die bisherigen Beschränkungen hinaus – nur noch in Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in solche Staaten gestattet sein, bei denen der Verbleib der Rüstungsgüter sichergestellt ist, in denen die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie gewahrt werden, die keine systematischen Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen begehen und die nicht an völkerrechtswidrigen kriegerischen Konflikten beteiligt sind. Dabei gilt- unter diesen Voraussetzungen – dem Selbstverteidigungsrecht Israels, mit dem uns eine besondere historische Verantwortung verbindet, auch in dieser Hinsicht unsere ausdrückliche Solidarität.

Die Zuständigkeit für die deutsche Genehmigung von Exporten und Produktionslizenzen muss vom Bundessicherheitsrat auf ein parlamentarisches Gremium verlagert werden, das nach transparenten und demokratischen Grundsätzen entscheidet.“

 

Unabhängig davon müssen Waffenexporte generell deutlich und dauerhaft reduziert werden. Insbesondere Kleinwaffenexporte in Nicht-EU-Staaten werden verboten.

 

Deutschland muss sich im Verbund mit seinen europäischen Partnern für einen ständigen Sitz der Europäischen Union im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einsetzen.

 

4. Frieden durch Entwicklung

Zu einer strategischen Friedenspolitik der Europäischen Union gehört auch eine kohärente Entwicklungspolitik. Die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten müssen in einer gemeinsamen entwicklungspolitischen Strategie zusammengeführt werden. Hierdurch werden Lücken und Doppelungen vermieden. Die gemeinsame Strategie muss einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen. Nachhaltige Entwicklungspolitik berücksichtigt den Schutz der universellen Menschenrechte, soziale und ökologische Standards und die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), achtet auf gute Regierungsführung und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Sie berücksichtigt traditionelle Landrechte und fördert eine regionale Versorgung mit Agrargütern auf der Basis von Kleinbauern und Kooperativen. Sie fördert Frauen – etwa auch über die Vergabe von Mikrokrediten –, schützt die Kinderrechte sowie „sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ (SRHR). Sie fördert nationale Systeme der Daseinsvorsorge einschließlich des Bildungswesens sowie den Handel. Die Entstehung einer Abhängigkeit von den Entwicklungsgeldern ist zu vermeiden. Vielmehr muss das Ziel sein, die Staaten zu einer eigenständigen Entwicklung zu befähigen. Durch eine Verlagerung der Wertschöpfungskette in die Ursprungsländer von Rohstoffen werden regionale Wirtschaftsräume gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen.

 

Wir stehen für Fairness in der internationalen Handels-, Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik. Die Partnerschaftsabkommen der Europäischen Union mit den afrikanischen Staaten (Economic Partnership Agreements) müssen daraufhin überprüft werden, ob sie der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den betroffenen Entwicklungsländern dienen oder Abhängigkeiten weiter zementieren. Auch in dem Nachfolgeabkommen zu dem Vertrag von Cotonou sind die beschriebenen Kriterien einer nachhaltigen Entwicklungspolitik zu berücksichtigen. Ungleiche Handelsbeziehungen, bei denen europäische Produkte insbesondere im Agrarbereich einen unfairen Marktvorteil in den Entwicklungsländern erlangen, müssen vermieden werden. Wir wollen Afrika bei der Schaffung einer afrikanischen Freihandelszone unterstützen und darüber hinaus regionale Verbünde stärken. Handelsabkommen mit wirtschaftlich starken Staaten oder Regionen dürfen keine nachteiligen Auswirkungen zulasten der sich entwickelnden Länder des Südens haben.

 

Die eingesetzten Mittel der europäischen Entwicklungszusammenarbeit müssen einem effektiven Monitoring unterliegen und es muss sichergestellt sein, dass sie nicht zweckentfremdet werden; die DAC-Kriterien der OECD sind einzuhalten. Keinesfalls dürfen Entwicklungsgelder für militärische Zwecke eingesetzt werden. Die Umwidmung entwicklungspolitischer Finanzmittel für sicherheitspolitische Aufgaben darf nicht fortgesetzt werden. Zudem darf Entwicklungshilfe nicht mit der Eindämmung von Migration gekoppelt werden, sondern muss sich am Bedarf und an den Kriterien einer nachhaltigen Entwicklungspolitik orientieren. Das gilt insbesondere auch für die Sahel-Staaten (G5 und andere).

 

Das Europäische Parlament muss auch im Bereich der Entwicklungspolitik gestärkt werden. Insbesondere muss der Europäische Entwicklungsfonds (EEF) in das EU-Budget eingegliedert werden. In der ODA-Quote dürfen nicht die Aufwendungen für Flüchtlinge berücksichtigt werden. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union darf nicht dazu führen, dass die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit sinken. Vielmehr müssen die verbleibenden Mitgliedstaaten ihre Beiträge angemessen erhöhen. Das gilt insbesondere auch für diejenigen Mitgliedstaaten, die bisher nur verhältnismäßig geringe Beiträge zur Entwicklungszusammenarbeit geleistet haben.

Empfehlung der Antragskommission:
Annahme
Stellungnahme(n):
Überwiesen am 09.07.2018 an: SPD-Parteivorstand, SPD-Abgeordnete im Europäischen Parlament, AK Europa der NRWSPD als Material zu Positionierung der NRWSPD zur Europawahl