EU-03 Die EU auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie

Die Forderung nach einem Europa der Demokratie und des lebendigen Parlamentarismus ist durch den Koalitionsvertrag zum Regierungsprogramm geworden und das Streben nach den Vereinigten Staaten von Europa begleitet die deutsche Sozialdemokratie bereits seit 1925. Diese Leitlinien und Zielvorstellungen gilt es nun mit politischem Leben zu füllen. Die SPD hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Demokratie in der Europäischen Union zu stärken und die Bürgerinnen und Bürger wieder verstärkt für die europäische Idee zu gewinnen. Für konkretes politisches Handeln bedeutet das, dass sich die EU von einer Kultur der technokratischen und verhandlungsbasierten Politikgestaltung hin zu einem System der politischen Auseinandersetzung und des politischen Wettbewerbs entwickeln muss. Politisierung und Demokratisierung gehen Hand in Hand; Parteien und Parlamente sind in einer repräsentativen Demokratie ihre zentralen Akteure. In diesem Sinne werden die sozialdemokratischen Verantwortlichen in der Bundesregierung, im Bundestag, im Europäischen Parlament und in der Partei selbst aufgefordert, in ihrer Arbeit die im Folgenden skizzierten Ziele maßgeblich zu verfolgen.

 

Echte Europäische Parteien und richtige Europawahlen

Für die demokratische Gestaltung sind Parteien unverzichtbar. Das gilt auch für die europäische Ebene. Parteipolitische Mitwirkung verlangt jedoch auch nach innerparteilicher Willensbildung und Mitbestimmung, die nur durch die Mitglieder einer Partei gewährleistet werden kann. In diesem Sinne soll sich die SPD als eine der größten Mitgliedsparteien in der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) für die Möglichkeit und satzungsgemäße Verankerung der individuellen Mitgliedschaft natürlicher Personen in der SPE einsetzen und sie somit zu einer beispielgebenden prototypischen Europäischen Partei weiterentwickeln. Die SPD soll außerdem darauf hinwirken, dass das Parteienstatut der Europäischen Union insofern geändert wird, als die individuelle Mitgliedschaft zu einer der Voraussetzungen für die Anerkennung als Partei auf europäischer Ebene wird.

Um den Willen der Bürgerinnen und Bürger Europas auch auf parlamentarischer Ebene abbilden zu können, bedarf es einer möglichst unmittelbaren Übersetzung des durch Wahlen ausgedrückten Willens in politische Mehrheiten. Die nach wie vor mit einem nationalen Charakter behafteten Wahlen zum Europäischen Parlament müssen daher konsequent europäisiert werden. Das erfordert die Einführung eines einheitlichen, europaweiten Wahlrechts, durch das 50 Prozent der zu vergebenden Mandate über transnationale Parteilisten bestimmt und die übrigen Mandate in den Mitgliedsstaaten nach europaweit einheitlichen Verfahren vergeben werden. Durch ein solches System wird der Gedanke der nationenübergreifenden Tragweite europapolitischer Entscheidungen und der davon ableitbaren erforderlichen Solidarität zwischen den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten betont und verstärkt.

 

Starke Demokratie durch ein starkes Parlament

Der nun wirklich europäische Charakter der Europawahlen würde die an vielen Stellen geforderte Stärkung des Europäischen Parlaments als unmittelbares Repräsentationsorgan der europäischen Bürgerinnen und Bürger auf eine neue Stufe heben. Um jedoch der Wahl die angemessene Bedeutung zu verleihen, muss auch das Parlament selbst über signifikant stärker ausgeprägte und ausgebaute Rechte verfügen, um dem demokratischen Willen, der durch die Europawahlen zum Ausdruck gebracht wurde, gerecht zu werden:

 

  • Neben der Wahl der Kommissionspräsidentin/ des Kommissionspräsidenten und der Bestätigung der Kommission im Ganzen muss das Europäische Parlament das Recht erhalten, mit der Mehrheit seiner Stimmen die Kommission durch die Wahl einer neuen Kommissionspräsidentin/ eines neuen Kommissionspräsidenten abzuwählen und zu ersetzen (konstruktives Misstrauensvotum). Dieses Recht verstärkt den politischen Charakter der Kommission und macht sie mittelbar von der Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger durch ihre parlamentarischen Repräsentanten abhängig. Gleichzeitig wird die Tendenz zur festen Koalitionsbildung im Europäischen Parlament als Ausdruck gesellschaftlich-politischer Mehrheiten verstärkt.

 

  • Der politische Charakter der Kommission als Quasi-Regierung der Europäischen Union muss darüber hinaus verstärkt werden, indem ihre Struktur an die Erfordernisse effektiven Regierens angepasst wird. Das bedeutet zum einen die Notwendigkeit zur deutlichen Reduzierung der Anzahl der Kommissarinnen und Kommissare, zum anderen die Rekrutierung des führenden Kommissionspersonals aus den Reihen der Europäischen Parteien. Das schließt das Spitzenkandidatenmodell ausdrücklich mit ein. Um auch weiterhin alle Nationalitäten berücksichtigen zu können, werden die Ämter der Kommissarinnen und Kommissare sowie der Generaldirektorinnen und Generaldirektoren gleichermaßen für den Verteilungsschlüssel herangezogen.

 

  • Das Europäische Parlament muss mit einem dem der Kommission gleichgestellten Initiativrecht ausgestattet werden, das es mit einer Anzahl von Abgeordneten, die den Bedingungen zur Fraktionsbildung entspricht, ausüben kann.

 

  • Das Recht, über die Verteilung der EU-Mittel zu entscheiden und den Haushalt zu beschließen, muss vollständig auf das Europäische Parlament übergehen.

 

  • Um die von ihm abhängige Kommission besser kontrollieren zu können, bedarf es neben den bereits bestehenden Auskunftsrechten des Europäischen Parlaments zusätzlich des Rechts, einzelne Kommissionsmitglieder bindend in das Plenum oder einzelne Ausschüsse des Parlaments zu laden und dort zu befragen.

 

Demokratie braucht Transparenz

Es besteht große Einigkeit darüber, dass das Entscheidungssystem der EU zu komplex ist, um von politisch interessierten Bürgerinnen und Bürgern nachvollzogen und verstanden werden zu können. Ziel einer institutionellen Demokratisierung muss es also sein, Komplexität zu reduzieren und politische Prozesse und Verantwortlichkeiten transparent zu gestalten. Dazu bedarf es einer Verfassung, die nicht nur das Zusammenspiel der Organe regelt, sondern auch deutliche und sinnvoll hergeleitete Aussagen über die Zuständigkeiten der verschiedenen Ebenen (EU, Mitgliedsstaaten, subnationale Ebenen) trifft. Verfassungsprinzip darf nicht – wie bisher – die Erfüllung bestimmter Ziele sein, sondern die Abgrenzung der Zuständigkeiten nach Politikfeld.

Die politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen der letzten siebzig Jahre machen es erforderlich, über eine Neuordnung der Kompetenzzuteilung zwischen Europäischer Union, ihren Mitgliedsstaaten und deren subnationalen Gebietskörperschaften zu verhandeln. Maßgeblich müssen dabei die Prinzipien der Transparenz und logischen Nachvollziehbarkeit sowie der Subsidiarität in ihrer vollen Konsequenz sein. Die Zuweisung der Kompetenzen muss sinnvoll gemäß den damit verbundenen globalen, nationalen oder regionalen Herausforderungen entsprechend auf die europäische, nationale oder subnationale Ebene erfolgen.

Gleichzeitig müssen mit der Kompetenzneuordnung auch die institutionellen Rahmenbedingungen angepasst werden. Die Gestalt der Europäischen Union sollte sich daher am organisatorischen Leitprinzip eines trennföderalen Systems orientieren. Es gilt, verbundföderale Strukturen, die die Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungswege und Verantwortung erschweren, möglichst weitgehend abzubauen. Einzuführen sind in diesem Zusammenhang die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz jeweils für die Mitgliedsstaaten und die Europäische Union sowie das Recht zur Rahmengesetzgebung für die EU. Für die Einbettung in die parlamentarische Struktur der Europäischen Union muss diese in ein durchschaubares und scharf konturiertes Drei-Kammern-System umgewandelt werden.

Während in diesem System die ersten beiden Kammern an der supranationalen Gesetzgebung beteiligt sind, obliegt der dritten Kammer als Vertretung der Mitgliedstaaten die Fortentwicklung der EU-Verfassung. Die Kammerstruktur der ordentlichen Gesetzgebung auf europäischer Ebene besteht aus:

 

  • dem Europäischen Parlament als supranationaler Vertretung der Bürgerinnen und Bürger und zentraler Gesetzgebungskammer. Perspektivisch muss das Parlament vollständig über transnationale Listen gewählt werden;

 

  • dem Rat der Europäischen Union als transnationaler Vertretung der Bürgerinnen und Bürger in Gestalt eines Europäischen Senats, der in direkter Wahl im nationalen Rahmen gewählt wird und bei dem jedem Mitgliedsstaat gemessen an seiner Bevölkerungsgröße zwischen drei und acht Mandate zustehen. Er wird im Bereich der Rahmengesetzgebung als zweite Kammer beteiligt und fasst seine Beschlüsse mit absoluter Mehrheit.

 

Die dritte Kammer bildet der Europäische Rat in seiner jetzigen Zusammensetzung. Er entscheidet über Vertragsänderungen und -anpassungen und repräsentiert die Mitgliedsstaaten als Herren der Verträge.

Empfehlung der Antragskommission:
Überweisen an: SPD-Parteivorstand als Material zur Erarbeitung des Europawahlprogramms und SPD-Landesvorstand NRW als Material zur Erarbeitung einer Positionierung der NRWSPD
Version der Antragskommission:

– Parteivorstand als Material zur Erarbeitung des Europawahlprogramms
– SPD-Landesvorstand NRW und AK Europa der NRWSPD als Material zur Erarbeitung einer Positionierung der NRWSPD zur Europawahl

Beschluss: Überweisung an: SPD-Parteivorstand als Material zur Erarbeitung des Europawahlprogramms und SPD-Landesvorstand NRW und AK Europa der NRWSPD als Material zur Erarbeitung einer Positionierung der NRWSPD zur Europawahl
Text des Beschlusses:

Überwiesen am 09.07.2018 an: SPD-Parteivorstand als Material zur Erarbeitung des Europawahlprogramms, SPD-Abgeordnete im Europäischen Parlament, AK Europa der NRWSPD als Material zu Positionierung der NRWSPD zur Europawahl

Beschluss-PDF: