Der Landesparteitag möge beschließen:
- die Bundestagsfraktion der SPD aufzufordern, ILO-Konvention 190 – vergleichbar mit Initiativen Spaniens, Griechenlands und Italiens – zu ratifizieren und umzusetzen. Parallel hierzu soll auch auf europäischer Ebene die Bundesregierung dazu aufgefordert werden, größeren Druck auf den Europäische Rat (ER) auszuüben, um eine systematische Ratifizierung der Konvention in der ganzen EU durch die Ermächtigung des ER möglich zu machen.
- sich – ihrer Vorbildrolle annehmend – entschieden dafür einzusetzen, in Bundestag und Länderparlamenten Maßnahmen einzubringen und umzusetzen, die eine gewalt- und belästigungsfreie Arbeitswelt für Arbeitnehmende ermöglichen.
- In diesem Rahmen das Dunkelfeld in den Blick zu nehmen und im Rahmen der zuvor beschriebenen Vorbildrolle in Bundestag und Länderparlamenten systematische und geschlechtssensible Datenerhebungssysteme zu entwickeln, die der Einrichtung oder Weiterentwicklung von Zielgruppen-zentrierten Hilfs-, Informations- und Beratungsangeboten dienen, einschließlich eines internen, parteiübergreifenden Meldesystems.
- die derzeit gesetzlich vorhergesehenen Fristen entsprechend der Lehren der #MeToo-Debatten so zu erweitern, dass Personen, die von sexueller Belästigung oder geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, auch tatsächlich die Möglichkeit haben, ihre Ansprüche geltend zu machen.
- eine Gesetzesänderungsinitiative einzubringen, sodass Betroffene künftig auch gemeinsam klagen dürfen.
- im Rahmen eines Pilotprojekts evidenzbasierte und Zielgruppen-spezifische Informations- und Beratungsmechanismen mit Fokus auf die Arbeitswelt zu entwickeln oder bestehende Mechanismen zu ergänzen, bei denen sich Arbeitgebende wie Betroffene niedrigschwellig informieren und beraten lassen können, sowie über die aktuelle Rechtslage aufklären lassen können. Dies gilt mit dem besonderen Ziel, das bestehende gravierende Information Gap zu sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt in der Arbeitswelt zu schließen.
Mit Beginn der #MeToo-Debatte im Jahr 2017 sind die Themenfelder sexuelle Belästigung und geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz auch in Deutschland zum zentralen Gegenstand der öffentlichen Debatte geworben und haben Aufmerksamkeit für das Sujet generiert. Die von der Internationalen Arbeitskonferenz (ILO) am 21. Juni 2019 verabschiedete Konvention 190 wird in diesem Kontext als historischer Meilenstein gesehen. Sie gilt weithin als wahrscheinlich weitreichendste Vorschrift zu Arbeitsstandards, die je von der ILO verabschiedet wurden, und betont das Recht jeder*s Einzelnen auf eine Arbeitswelt frei von Gewalt und Belästigung. Das schließt nach Artikel 1 der Konvention auch die erste weltweit gültige Definition von geschlechtsspezifischer Gewalt am Arbeitsplatz ein:
„Im Sinne dieses Übereinkommens a) bezieht sich der Begriff „Gewalt und Belästigung“ in der Arbeitswelt auf eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung; b) bedeutet der Begriff „geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“ Gewalt und Belästigung, die gegen Personen aufgrund ihres Geschlechts gerichtet sind oder von denen Personen eines bestimmten biologischen oder sozialen Geschlechts unverhältnismäßig stark betroffen sind, und umfasst auch sexuelle Belästigung.“
Der Schutzbereich der Konvention bezieht sich dabei nicht nur auf den Arbeitsplatz allein, sondern auf die Arbeitswelt generell, hat der Konvention folgend nicht nur Gewalt am Arbeitsplatz selbst Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Die Konvention betont so zum Beispiel auch die Verantwortung des Arbeitgebenden, Arbeitnehmer*innen vor den Folgen häuslicher Gewalt zu schützen. Vom Anwendungsbereich der Konvention werden neben formellen überdies auch informelle Arbeitsverhältnisse abgedeckt.
Die Ratifizierung der ILO-Konvention stellt in diesem Kontext einen wesentlichen Schritt hin zu einer gewaltfreien Arbeitswelt dar. Um Arbeitsbedingungen für von geschlechtsspezifischer Gewalt und sexueller Belästigung betroffenen Menschen wirklich und nachhaltig zu verbessern, muss die Deutsche Bundesregierung die Konvention allerdings ratifizieren und in nationales Recht umsetzen. Hierzu ist – weil europäische Rechtsinhalte betroffen sind – jedoch die Ermächtigung durch den ER notwendig, die derzeit noch von einigen Mitgliedstaaten blockiert wird.
Dabei handelt es sich nicht nur um ein rechtliches, sondern auch um ein Informations- und Beratungsproblem: So gibt die Hälfte der befragten Beschäftigten laut der aktuelle „Leitfaden für Beschäftigte, Arbeitgeber und Betriebsräte“ der Antidiskriminierungstelle des Bundes (2021) an, am Arbeitsplatz eine nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbotene sexuelle Belästigung selbst erlebt zu haben. Im Kontrast hierzu steht der Umstand, dass trotz bestehender Beratungsmechanismus mehr als 80 Prozent der Befragten nicht wussten, dass Arbeitgebende dazu verpflichtet sind, ihre Beschäftigten aktiv vor sexueller Belästigung zu schützen. Entsprechend wenige Präventions- und Schutzmaßnahmen sind den Befragten laut des Leitfadens bekannt: „Jede zweite Person hat angegeben, überhaupt keine Maßnahmen zu kennen, die im eigenen Unternehmen gegen sexuelle Belästigung ergriffen wurden. Insgesamt fehlt es an Informationen über Maßnahmen zur Durchsetzung eines aktiven Schutzes vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.“