IR-06 Rechtswidriger Polizeigewalt und Rassismus wirksam entgegentreten

Status:
Annahme mit Änderungen

Die SPD-Fraktion im Landtag wird aufgefordert, sich für die nachfolgenden Maßnahmen einzusetzen:

 

  1. Eine Pflicht zur gut sichtbaren Kennzeichnung für Polizeibeamtinnen und -beamte, entweder anhand eines Namensschildes oder anhand einer einprägsamen Nummer, stellt die Nachverfolgbarkeit von Fehlverhalten sicher. Länder wie Berlin, Bremen oder Brandenburg haben diese Forderung schon umgesetzt. Gerade im Bereich von Großveranstaltungen scheitern Ermittlungen gegen Beamtinnen und Beamte häufig an der mangelnden Identifizierbarkeit. Fälle, in denen Polizeibeamtinnen und -beamte im persönlichen Umfeld Repressalien durch Dritte ausgesetzt waren, nachdem sie – zumal aufgrund einer Nummer – im Rahmen von Einsätzen identifiziert worden waren, sind dagegen, trotz entsprechender gewerkschaftlicher Warnungen, nicht bekannt. Diese Problematik muss jedoch in Zukunft sorgfältig beobachtet werden.
  2. Notwendig ist die Etablierung einer offenen Fehlerkultur. Kein Mensch, auch kein Polizeibeamter und keine Polizeibeamtin, kann in jeder Situation fehlerfrei arbeiten. Umso wichtiger ist im Dienstalltag die Zeit zur Supervision in Gestalt der Aufarbeitung problematischer Einsatzsituationen. Diese Zeit fehlt nach Erfahrung vieler Polizeibeamtinnen und -beamter im Alltag. Dabei darf der Fokus nicht primär auf einer repressiven Reaktion auf – vermeintliches oder tatsächliches – Fehlverhalten liegen, die die Beamtinnen und Beamten von vornherein in eine Abwehrhaltung drängt, sondern im Vordergrund muss das Ziel stehen, kritische Situationen so zu reflektieren, dass sie in Zukunft besser gelöst werden. Überall, gerade aber in Brennpunkten ist dabei zusätzlich die regelmäßige Betreuung durch Psychologen nötig, wie sie andere Bundesländer zum Teil bereits flächendeckend etabliert haben, um eine etwaige Verfestigung rechtsstaatlich problematischer Einstellungen und Handlungsroutinen frühzeitig zu erkennen und ihr entgegenzuwirken. Entsprechende Konzepte sollten polizeiwissenschaftlich erarbeitet werden. Auch eine höhere Personalrotation für Beamtinnen und Beamte in besonders konfrontativen Einsatzgebieten – etwa in Brennpunktbezirken oder als Teil von Hundertschaften – sollte zur Vermeidung übermäßiger Frustration eruiert werden.
  3. Teil dieser Fehlerkultur muss zugleich die Unterstützung jener Beamtinnen und Beamten sein, die rechtsstaatswidriges oder zur Rechtsstaatswidrigkeit neigendes Verhalten zur Sprache bringen. Sie dürfen nicht länger von Teilen der Kolleginnen und Kollegen als „Nestbeschmutzer“ oder „Verräter“ angesehen werden, sondern verdienen positive Wertschätzung auch und gerade aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen für das Bestreben, die polizeiliche Arbeit zu verbessern und ihrer rechtsstaatlichen Verantwortung nachzukommen. Dafür bedarf es zugleich niederschwelliger Kontaktmöglichkeiten, um Fehlverhalten – auch anonym – auch dann anzusprechen, wenn im konkreten Fall der Eindruck besteht, dass dies innerhalb der eigenen Einheit nicht möglich ist.
  4. Entscheidend ist darüber hinaus periodisch wiederkehrende verpflichtende Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zu rechtswidriger Polizeigewalt und Rassismus. Derartige Inhalte bleiben bislang häufig auf die Ausbildung am Anfang der Karriere beschränkt. Einschlägige Fortbildungsangebote gibt es in deutlich zu geringem Umfang, die zudem häufig auf Freiwilligkeit beruhen – Anordnungen zur Teilnahme werden nur selten ausgesprochen – und damit die Beamtinnen und Beamten mit problematischem Verhalten in der Regel gerade nicht erreichen.
  5. Die Position von Betroffenen von rechtswidriger Polizeigewalt und polizeilichem Rassismus muss gestärkt werden. Hierzu bedarf es vor allem der Etablierung unabhängiger Beschwerdestellen, die einschlägigen Vorwürfen gegen Polizeibeamtinnen und -beamte mit der nötigen Distanz nachgehen können, die Polizei und Staatsanwaltschaften ansonsten gerade nicht eigen ist. Dies macht die Ermittlungen fundierter und stärkt zugleich das Vertrauen der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in die rechtsstaatlichen Abläufe. Vorbild kann hier etwa Dänemark sein, wo eine entsprechende Institution eingerichtet wurde, die gerade nicht mit Polizeibeamtinnen -beamten, sondern mit Juristinnen und Juristen besetzt ist. Diese Institutionen können zugleich die oben angesprochenen niederschwelligen Kontaktmöglichkeiten für Polizeibeamtinnen und -beamte bereitstellen. Wichtig sind die Einräumung ausreichender Ermittlungs- und Kontrollbefugnisse ebenso wie die hinreichende Ausstattung mit Personal. Nicht ausreichend sind dagegen Modelle wie das 2019 in NRW eingeführte, in dem das Amt des Polizeibeauftragten selbst mit einem Polizisten besetzt wird, der zudem kaum eigene Kompetenzen hat.
  6. Speziell Opfern von racial profiling kann die – jüngst etwa in Bremen zumindest für bestimmte Fälle im Polizeigesetz verankerte – Einführung von Kontrollquittungen helfen, mit der die kontrollierte Person eine Bescheinigung über Modalitäten, Rechtsgrundlage und Ergebnis der polizeilichen Kontrolle erhält. Dieses etwa in Großbritannien bereits erprobte Modell erlaubt es Angehörigen ethnischer Minderheiten nachzuweisen, wenn sie tatsächlich besonders häufig kontrolliert werden, und ermöglicht damit zugleich eine Aufarbeitung entsprechender Praktiken.
  7. Zur Sicherung der Nachvollziehbarkeit polizeilichen Handelns und der Auswertbarkeit etwaigen Fehlverhaltens sollte mittelfristig die flächendeckende Nutzung von Körperkameras („Bodycams“) zur Bild- und Tonaufzeichnung im Einsatz erfolgen, die bisher nur in Ansätzen umgesetzt wird. Erforderlichenfalls sind die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen hierfür anzupassen. Erfahrungen aus dem Ausland, etwa in einigen Staaten der USA, zeigen, dass hierdurch Polizeibeamtinnen und -beamte selbst diszipliniert werden, weil sie um die deutlich einfachere Verfolgbarkeit etwaigen Fehlverhaltens wissen, dass aber zugleich auch die Angriffe gegen Polizeibeamtinnen und -beamte zurückgehen, weil auch diese Taten unmittelbar dokumentiert werden. Wichtig ist hierbei, dass es nicht im Ermessen der Beamtinnen und Beamten stehen darf, die Kameras ein- bzw. auszuschalten, sondern dass zunächst jedes Einsatzgeschehen gefilmt wird, und dass die Speicherung der Daten so erfolgt, dass eine Löschung durch die Polizei ausgeschlossen ist. Dabei sollte stets eine Vor-Aufzeichnung stattfinden, das heißt wenn ein Einsatzgeschehen beginnt und die Beamtin/der Beamte daraufhin – verpflichtend – die Kamera aktiviert, sollte die Aufzeichnung auch eine gewisse Zeitspanne (bspw. eine Minute) vor dem Zeitpunkt des Knopfdrucks umfassen, um insbesondere die Entstehung einer Situation (etwa einen Angriff auf die Beamtinnen und Beamten) besser nachvollziehen zu können.
  8. Der Bezirks- und Schwerpunktdienst sollte mittelfristig personell erheblich besser ausgestattet werden, um – vor allem, aber nicht nur in Brennpunkten – durch mehr niederschwellige Kontakte zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Polizei (insbesondere in Gestalt von Fußstreifen) mehr Verständnis füreinander und so ein besseres Miteinander zu schaffen.
  9. Um die Beweissicherung durch Betroffene und Dritte in potentiell problematischen Situationen nicht zu erschweren, bedarf es darüber hinaus einer Klarstellung, dass die Videoaufzeichnung von Einsatzhandlungen nicht unter den Tatbestand des § 201 StGB (Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes) fällt. Immer wieder werden derartige Aufzeichnungen bislang polizeilich mit Verweis auf die Strafvorschrift unterbunden oder gar strafgerichtlich verfolgt. Dabei wird von den Gerichten unterschiedlich beurteilt, ob die Norm einschlägig ist (vgl. etwa LG München I, Urteil vom 11. Februar 2019 – 25 Ns 116 Js 165870/17 –, gegenüber LG Kassel, Beschluss vom 23. September 2019 – 2 Qs 111/19 –). Um nicht den Betroffenen oder Zeuginnen und Zeugen das Risiko aufzuerlegen, ob die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) vorliegen, die das Filmen rechtmäßig machen (vgl. LG Aachen, Beschluss vom 19. August 2020 – 60 Qs 34/20 –, Rn. 29, juris), ist eine gesetzliche Klarstellung erforderlich, da das Vorhandenseins objektives Beweismaterials für den Fall einer Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Vorgehens aus rechtsstaatlicher Sicht nur zu begrüßen ist. Sofern die Normen des Urheberrechts nicht als ausreichend angesehen werden, der unbefugten Veröffentlichung derartiger Aufnahmen entgegenzuwirken, kann auf dieser Ebene eine gesetzliche Einschränkung erfolgen.
Begründung:

 

Am 18.06.2020 berichtete die Sendung „Monitor“ über den Fall eines in Berlin lebenden Venezolaners. Eigentlich mit dem Fahrrad unterwegs und durch ein Telefonat auf Spanisch als mutmaßlich über einen Migrationshintergrund verfügend erkennbar, wird er im September 2019 von Polizistinnen und Polizisten zu Boden gebracht, geschlagen, gewürgt und getreten, immer wieder befragt, wo die Drogen und Waffen seien. Finden können die Polizistinnen und Polizisten nichts. Dem Hinweis des Opfers, er sei als ambulanter Pflegehelfer tätig, schenken die Beamtinnen und Beamten zunächst keinen Glauben, bis sie schließlich seinen Dienstausweis finden. Sie lassen unmittelbar von ihrem Opfer ab und verschwinden. Das Geschehen wird von einem Zeugen gefilmt.

 

Wegen der erlittenen Verletzungen kommt der Venezolaner zunächst ins Krankenhaus, später in die Reha. Gerade aufgrund der psychischen Folgen ist er noch zum Zeitpunkt der Ausstrahlung berufsunfähig und hatte seine Arbeitsstelle aufgeben müssen. Die Polizei indes erstattete ihrerseits Anzeige gegen den Venezolaner wegen Widerstands, tätlichen Angriffs und Beleidigung. Der Ausgang des gerichtlichen Verfahrens ist noch ungewiss.

 

Rechtswidrige Polizeigewalt und Rassismus in der Polizei wie im geschilderten Fall sind nicht erst seit dem Bekanntwerden einer Reihe offenbar rassistisch begründeter Übergriffe in den USA ein Thema. Gleichzeitig nehmen Widerstandshandlungen und tätliche Angriffe zum Nachteil von Polizistinnen und Polizisten stark zu. Während diese immer wieder entschiedene politische Reaktionen auslösen, die unter anderem bereits zur Verschärfung der einschlägigen Straftatbestände geführt haben, stehen Verhinderung sowie Ahndung rechtswidriger Gewaltanwendung und rassistischer Verhaltensweisen seitens der Polizei bislang häufig weiter hinten auf der politischen Agenda. Es steht gar zu befürchten, dass durch den Trend zur Verschärfung von Polizeigesetzen problematisches Verhalten von Beamtinnen und Beamten noch an Raum gewinnt.

 

Die gesellschaftliche Diskussion hat in der jüngsten Vergangenheit jedoch deutlich an Fahrt aufgenommen, nicht zuletzt nach dem Bekanntwerden der Existenz mehrerer rechtsextremer Chatgruppen in Polizeikreisen. Fehl geht dabei der Einwand, gewisse Verhaltensweisen seien bei einer Polizei, die „Spiegelbild der Gesellschaft“ sein solle, eben hinzunehmen. Die Polizei als Trägerin des Gewaltmonopols muss an sich selbst vielmehr besonders scharfe Maßstäbe in Sachen Rechtsstaatlichkeit anlegen lassen. Selbst bei der vielbeschworenen Quote von 99 Prozent rechtschaffenen Beamtinnen und Beamten blieben bundesweit gut 2.700 Polizeibeamtinnen und -beamte übrig, die sich rechtsstaatswidrig verhalten. Schon dies weist darauf hin, dass die These von bloßen „Einzelfällen“ kaum haltbar ist.

 

Mit der seit März 2018 laufenden Studie „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“ (KVIAPOL) des Kriminologen Prof. Dr. Tobias Singelnstein und seines Team von der Ruhr-Universität Bochum wird das Feld in Deutschland erstmals umfassend wissenschaftlich untersucht. Dabei wurden erhebliche Missstände offenbar: So lag etwa die Quote von Verfahren gegen Polizeibedienstete wegen Gewaltausübung und Aussetzung, die in einer Anklage oder einem Strafbefehl gemündet haben, bei unter 2 Prozent und damit deutlich niedriger als der Durchschnitt aller Strafverfahren; dort liegt der Wert bei 24 Prozent. Es bestehen erhebliche Zweifel, dass die Diskrepanz zwischen diesen beiden Zahlen allein auf die Rechtmäßigkeit polizeilicher Gewaltanwendung zurückzuführen ist. Freilich wird auch nach Abschluss des Projekts noch ein erheblicher Forschungsbedarf bestehen.

 

Bereits jetzt sind, unter anderem gestützt auf die Ergebnisse von KVIAPOL, eine Reihe von Maßnahmen erkennbar, die geeignet sind, die Rechtsstaatlichkeit der Polizei und damit zugleich das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizeibehörden zu stärken. Das verspricht nicht nur eine effektivere Polizeiarbeit, sondern stärkt das Vertrauen in den Rechtsstaat allgemein und damit in unser demokratisches Gemeinwesen insgesamt.

 

Während einzelne Maßnahmen in einigen Bundesländern bereits umgesetzt sind, gibt es bundesweit – auf Länder- wie auf Bundesebene – noch Handlungsbedarf. Namentlich in NRW finden die obigen Punkte bisher kaum Berücksichtigung. Die Sozialdemokratie muss auf Bundes- und Länderebene entschieden für die Umsetzung dieser Maßnahmen eintreten und sie, wo die SPD selbst Regierungsverantwortung trägt, selbst sicherstellen.

 

Zu beobachten sind, insbesondere im Zusammenhang mit dem, aber nicht allein beschränkt auf den Bereich von racial profiling, zudem die Erfahrungen mit der gesetzlichen Etablierung einer Beweislastumkehr nach Berliner Vorbild bei Beschwerden gegen polizeiliches Vorgehen. Dieses Instrument bezieht sich nicht auf straf- oder disziplinarrechtliche Maßnahmen gegen konkrete Polizeibeamtinnen und -beamte, sondern auf die institutionelle Verantwortlichkeit der Behörde bzw. des Rechtsträgers. Sie zwingt letzteren dazu, sich mit einschlägigen Vorfällen auseinanderzusetzen, könnte damit einen Beitrag zur Etablierung der oben geforderten Fehlerkultur leisten.

Empfehlung der Antragskommission:
Annahme in Fassung der Antragskommission
Version der Antragskommission:

Füge ein in Zeile 10 nach „umgesetzt“:

 

und in NRW war es die Sozialdemokratie, die in Regierungsverantwortung diese Kennzeichnungspflicht bereits einführte, bevor sie unter Innenminister Reul Ende 2017 wieder abgeschafft wurde.

 

Füge ein in Zeile 79 (neu) vor „5. Die Position“:

 

5. Angehörige von Opfern rassistischer Anschläge machten die erschütternde und retraumatisierende Erfahrung einer zum Teil diskriminierenden und stigmatisierenden Behandlung durch Sicherheitsbehörden im Nachgang zur Tat, beispielsweise in Hanau. So erlitten sie in ihrem Schmerz und Leid noch eine zusätzliche Entwürdigung und Kränkung. Mitarbeiter*innen von Sicherheitsbehörden sowie weiterer staatlicher Stellen müssen kontinuierlich für solche Situationen und den Umgang mit Opfern rassistischer Gewalt und deren Angehörigen geschult und umfassend sensibilisiert werden. Dafür ist auch im Prozeduralen in der Form der Information, Betreuung und Begleitung Sorge zu tragen.

 

Ersetze in Zeile 79 (alt):

 

das Wort „5.“ durch „6.“ [6. Die Position……]

 

Füge ein in Zeile 157 (alt) vor „9. Um die“:

 

9. Turnusmäßige Konferenzen bzw. Runde Tische zwischen den Leitungen der Kreispolizeibehörden und Vereinen, Initiativen, Gemeinden und MSOs, die sich mit Fragen von Antirassismus, Diversität und Pluralität in ihrem Alltag befassen, sollten auf lokaler Ebene etabliert werden. Derartige Treffen dienen gleichermaßen dem Austausch, dem Kennenlernen, dem Benennen von Ängsten und Sorgen sowie ingesamt dem Vertrauensaufbau. Für viele Mitglieder dieser Organisationen ist es von hoher Bedeutung, dass Recht und Ordnung eben gerade auch als Schutz durch Polizei- und Sicherheitsbehörden vor rassistischer, muslimfeindlicher oder antiziganistischer Gewalt begriffen werden, während öffentlich im Zuge einer „Versicherheitlichung“ der Debatten häufig rechtspopulistische und reaktionäre Diskurse Raum greifen, die ihre Gefährdung und Betroffenheit durch ebensolche Gewalt geradezu ausblenden und ins Gegenteil verkehren.

 

Ersetze in Zeile 157 (alt):

 

das Wort „9.“ durch „10.“ [10. Um die]

Beschluss: Annahme in Fassung der Antragskommission
Text des Beschlusses:

Die SPD-Fraktion im Landtag wird aufgefordert, sich für die nachfolgenden Maßnahmen einzusetzen:

  1. Eine Pflicht zur gut sichtbaren Kennzeichnung für Polizeibeamtinnen und -beamte, entweder anhand eines Namensschildes oder anhand einer einprägsamen Nummer, stellt die Nachverfolgbarkeit von Fehlverhalten sicher. Länder wie Berlin, Bremen oder Brandenburg haben diese Forderung schon umgesetzt und in NRW war es die Sozialdemokratie, die in Regierungsverantwortung diese Kennzeichnungspflicht bereits einführte, bevor sie unter Innenminister Reul Ende 2017 wieder abgeschafft wurde. Gerade im Bereich von Großveranstaltungen scheitern Ermittlungen gegen Beamtinnen und Beamte häufig an der mangelnden Identifizierbarkeit. Fälle, in denen Polizeibeamtinnen und -beamte im persönlichen Umfeld Repressalien durch Dritte ausgesetzt waren, nachdem sie – zumal aufgrund einer Nummer – im Rahmen von Einsätzen identifiziert worden waren, sind dagegen, trotz entsprechender gewerkschaftlicher Warnungen, nicht bekannt. Diese Problematik muss jedoch in Zukunft sorgfältig beobachtet werden.
  2. Notwendig ist die Etablierung einer offenen Fehlerkultur. Kein Mensch, auch kein Polizeibeamter und keine Polizeibeamtin, kann in jeder Situation fehlerfrei arbeiten. Umso wichtiger ist im Dienstalltag die Zeit zur Supervision in Gestalt der Aufarbeitung problematischer Einsatzsituationen. Diese Zeit fehlt nach Erfahrung vieler Polizeibeamtinnen und -beamter im Alltag. Dabei darf der Fokus nicht primär auf einer repressiven Reaktion auf – vermeintliches oder tatsächliches – Fehlverhalten liegen, die die Beamtinnen und Beamten von vornherein in eine Abwehrhaltung drängt, sondern im Vordergrund muss das Ziel stehen, kritische Situationen so zu reflektieren, dass sie in Zukunft besser gelöst werden. Überall, gerade aber in Brennpunkten ist dabei zusätzlich die regelmäßige Betreuung durch Psychologen nötig, wie sie andere Bundesländer zum Teil bereits flächendeckend etabliert haben, um eine etwaige Verfestigung rechtsstaatlich problematischer Einstellungen und Handlungsroutinen frühzeitig zu erkennen und ihr entgegenzuwirken. Entsprechende Konzepte sollten polizeiwissenschaftlich erarbeitet werden. Auch eine höhere Personalrotation für Beamtinnen und Beamte in besonders konfrontativen Einsatzgebieten – etwa in Brennpunktbezirken oder als Teil von Hundertschaften – sollte zur Vermeidung übermäßiger Frustration eruiert werden.
  3. Teil dieser Fehlerkultur muss zugleich die Unterstützung jener Beamtinnen und Beamten sein, die rechtsstaatswidriges oder zur Rechtsstaatswidrigkeit neigendes Verhalten zur Sprache bringen. Sie dürfen nicht länger von Teilen der Kolleginnen und Kollegen als „Nestbeschmutzer“ oder „Verräter“ angesehen werden, sondern verdienen positive Wertschätzung auch und gerade aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen für das Bestreben, die polizeiliche Arbeit zu verbessern und ihrer rechtsstaatlichen Verantwortung nachzukommen. Dafür bedarf es zugleich niederschwelliger Kontaktmöglichkeiten, um Fehlverhalten – auch anonym – auch dann anzusprechen, wenn im konkreten Fall der Eindruck besteht, dass dies innerhalb der eigenen Einheit nicht möglich ist.
  4. Entscheidend ist darüber hinaus periodisch wiederkehrende verpflichtende Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zu rechtswidriger Polizeigewalt und Rassismus. Derartige Inhalte bleiben bislang häufig auf die Ausbildung am Anfang der Karriere beschränkt. Einschlägige Fortbildungsangebote gibt es in deutlich zu geringem Umfang, die zudem häufig auf Freiwilligkeit beruhen – Anordnungen zur Teilnahme werden nur selten ausgesprochen – und damit die Beamtinnen und Beamten mit problematischem Verhalten in der Regel gerade nicht erreichen.
  5. Angehörige von Opfern rassistischer Anschläge machten die erschütternde und retraumatisierende Erfahrung einer zum Teil diskriminierenden und stigmatisierenden Behandlung durch Sicherheitsbehörden im Nachgang zur Tat, beispielsweise in Hanau. So erlitten sie in ihrem Schmerz und Leid noch eine zusätzliche Entwürdigung und Kränkung. Mitarbeiter*innen von Sicherheitsbehörden sowie weiterer staatlicher Stellen müssen kontinuierlich für solche Situationen und den Umgang mit Opfern rassistischer Gewalt und deren Angehörigen geschult und umfassend sensibilisiert werden. Dafür ist auch im Prozeduralen in der Form der Information, Betreuung und Begleitung Sorge zu tragen.
  6. Die Position von Betroffenen von rechtswidriger Polizeigewalt und polizeilichem Rassismus muss gestärkt werden. Hierzu bedarf es vor allem der Etablierung unabhängiger Beschwerdestellen, die einschlägigen Vorwürfen gegen Polizeibeamtinnen und -beamte mit der nötigen Distanz nachgehen können, die Polizei und Staatsanwaltschaften ansonsten gerade nicht eigen ist. Dies macht die Ermittlungen fundierter und stärkt zugleich das Vertrauen der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer in die rechtsstaatlichen Abläufe. Vorbild kann hier etwa Dänemark sein, wo eine entsprechende Institution eingerichtet wurde, die gerade nicht mit Polizeibeamtinnen -beamten, sondern mit Juristinnen und Juristen besetzt ist. Diese Institutionen können zugleich die oben angesprochenen niederschwelligen Kontaktmöglichkeiten für Polizeibeamtinnen und -beamte bereitstellen. Wichtig sind die Einräumung ausreichender Ermittlungs- und Kontrollbefugnisse ebenso wie die hinreichende Ausstattung mit Personal. Nicht ausreichend sind dagegen Modelle wie das 2019 in NRW eingeführte, in dem das Amt des Polizeibeauftragten selbst mit einem Polizisten besetzt wird, der zudem kaum eigene Kompetenzen hat.
  7. Speziell Opfern von racial profiling kann die – jüngst etwa in Bremen zumindest für bestimmte Fälle im Polizeigesetz verankerte – Einführung von Kontrollquittungen helfen, mit der die kontrollierte Person eine Bescheinigung über Modalitäten, Rechtsgrundlage und Ergebnis der polizeilichen Kontrolle erhält. Dieses etwa in Großbritannien bereits erprobte Modell erlaubt es Angehörigen ethnischer Minderheiten nachzuweisen, wenn sie tatsächlich besonders häufig kontrolliert werden, und ermöglicht damit zugleich eine Aufarbeitung entsprechender Praktiken.
  8. Zur Sicherung der Nachvollziehbarkeit polizeilichen Handelns und der Auswertbarkeit etwaigen Fehlverhaltens sollte mittelfristig die flächendeckende Nutzung von Körperkameras („Bodycams“) zur Bild- und Tonaufzeichnung im Einsatz erfolgen, die bisher nur in Ansätzen umgesetzt wird. Erforderlichenfalls sind die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen hierfür anzupassen. Erfahrungen aus dem Ausland, etwa in einigen Staaten der USA, zeigen, dass hierdurch Polizeibeamtinnen und -beamte selbst diszipliniert werden, weil sie um die deutlich einfachere Verfolgbarkeit etwaigen Fehlverhaltens wissen, dass aber zugleich auch die Angriffe gegen Polizeibeamtinnen und -beamte zurückgehen, weil auch diese Taten unmittelbar dokumentiert werden. Wichtig ist hierbei, dass es nicht im Ermessen der Beamtinnen und Beamten stehen darf, die Kameras ein- bzw. auszuschalten, sondern dass zunächst jedes Einsatzgeschehen gefilmt wird, und dass die Speicherung der Daten so erfolgt, dass eine Löschung durch die Polizei ausgeschlossen ist. Dabei sollte stets eine Vor-Aufzeichnung stattfinden, das heißt wenn ein Einsatzgeschehen beginnt und die Beamtin/der Beamte daraufhin – verpflichtend – die Kamera aktiviert, sollte die Aufzeichnung auch eine gewisse Zeitspanne (bspw. eine Minute) vor dem Zeitpunkt des Knopfdrucks umfassen, um insbesondere die Entstehung einer Situation (etwa einen Angriff auf die Beamtinnen und Beamten) besser nachvollziehen zu können.
  9. Der Bezirks- und Schwerpunktdienst sollte mittelfristig personell erheblich besser ausgestattet werden, um – vor allem, aber nicht nur in Brennpunkten – durch mehr niederschwellige Kontakte zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Polizei (insbesondere in Gestalt von Fußstreifen) mehr Verständnis füreinander und so ein besseres Miteinander zu schaffen.
  10. Turnusmäßige Konferenzen bzw. Runde Tische zwischen den Leitungen der Kreispolizeibehörden und Vereinen, Initiativen, Gemeinden und MSOs, die sich mit Fragen von Antirassismus, Diversität und Pluralität in ihrem Alltag befassen, sollten auf lokaler Ebene etabliert werden. Derartige Treffen dienen gleichermaßen dem Austausch, dem Kennenlernen, dem Benennen von Ängsten und Sorgen sowie ingesamt dem Vertrauensaufbau. Für viele Mitglieder dieser Organisationen ist es von hoher Bedeutung, dass Recht und Ordnung eben gerade auch als Schutz durch Polizei- und Sicherheitsbehörden vor rassistischer, muslimfeindlicher oder antiziganistischer Gewalt begriffen werden, während öffentlich im Zuge einer „Versicherheitlichung“ der Debatten häufig rechtspopulistische und reaktionäre Diskurse Raum greifen, die ihre Gefährdung und Betroffenheit durch ebensolche Gewalt geradezu ausblenden und ins Gegenteil verkehren.
  11. Um die Beweissicherung durch Betroffene und Dritte in potentiell problematischen Situationen nicht zu erschweren, bedarf es darüber hinaus einer Klarstellung, dass die Videoaufzeichnung von Einsatzhandlungen nicht unter den Tatbestand des § 201 StGB (Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes) fällt. Immer wieder werden derartige Aufzeichnungen bislang polizeilich mit Verweis auf die Strafvorschrift unterbunden oder gar strafgerichtlich verfolgt. Dabei wird von den Gerichten unterschiedlich beurteilt, ob die Norm einschlägig ist (vgl. etwa LG München I, Urteil vom 11. Februar 2019 – 25 Ns 116 Js 165870/17 –, gegenüber LG Kassel, Beschluss vom 23. September 2019 – 2 Qs 111/19 –). Um nicht den Betroffenen oder Zeuginnen und Zeugen das Risiko aufzuerlegen, ob die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) vorliegen, die das Filmen rechtmäßig machen (vgl. LG Aachen, Beschluss vom 19. August 2020 – 60 Qs 34/20 –, Rn. 29, juris), ist eine gesetzliche Klarstellung erforderlich, da das Vorhandenseins objektives Beweismaterials für den Fall einer Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Vorgehens aus rechtsstaatlicher Sicht nur zu begrüßen ist. Sofern die Normen des Urheberrechts nicht als ausreichend angesehen werden, der unbefugten Veröffentlichung derartiger Aufnahmen entgegenzuwirken, kann auf dieser Ebene eine gesetzliche Einschränkung erfolgen.
Beschluss-PDF: