O-03 Thesen zur Erneuerung der SPD

I) Zur Lage

Das Ergebnis der Bundestagswahl markiert zweifellos einen Tiefpunkt der Zustimmung zur Sozialdemokratie. Er ist umso schwerwiegender, als zum dritten Mal hintereinander die SPD auf Bundesebene ein Wahlergebnis im Bereich der 20er Wahlergebnisse erreicht. Die SPD erreicht damit Wahlergebnisse auf einem Niveau wie in der Zeit der Weimarer Republik, als die SPD sich noch nicht durchweg als Volkspartei verstand.

Das dreimalige schlechte Abschneiden der SPD, doch auch die Wahlergebnisse für die sozialdemokratischen Parteien in anderen europäischen Ländern lassen erkennen, dass die Sozialdemokratie mit Problemen zu kämpfen hat, die die Struktur, das Selbstverständnis, die Programmatik und die Strategie gleichermaßen betreffen.

Hier sollen Fragen und Probleme benannt, der Umgang mit ihnen erörtert und Lösungsansätze gekennzeichnet werden. Es bedarf der Erneuerung der Sozialdemokratie in einer Reihe von Hinsichten, teilweise durch Rückbesinnung auf ihre Tradition.

 

II) Zur Identität der SPD

1)         Die SPD als Programmpartei

Die Partei ist seit dem 19. Jahrhundert die große deutsche Reformpartei, die sich mit den bestehenden Verhältnisse nie abfinden wollte, sondern sie schrittweise umzugestalten versucht. Die SPD ist die Partei des vernünftigen Fortschritts.

Die SPD ist den Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verpflichtet, die sich gegenseitig bedingen. Die SPD muss die Wertbezüge ihrer Politik deutlicher machen. Auch pragmatische Politik bedarf werthafter Grundlagen.

Allerdings weiß die SPD auf Grund vielfältiger historischer Erfahrungen, dass es Zielkonflikte in der sozialdemokratischen Politik geben kann.

Die SPD muss prüfen, in welchen Punkten ihre Programmatik unzureichend ist.

Die Partei hat ihr Programm stärker in Dialogen mit der Fachöffentlichkeit weiterzuentwickeln, sie muss stärker das Gespräch – auch in den Neuen Medien – suchen.

 

2)         Die SPD als linke Volkspartei

Die SPD darf ihre Politik nicht auf einen begrenzten Teil der Bevölkerung beziehen. Sie basiert auf den breiten arbeitenden Schichten, schließt selbstverständlich auch deren Umfelder ein: einerseits sozial Schwächere, andererseits aber auch Menschen, die – häufig auch dank sozialdemokratischer Politik – sozial aufgestiegen sind.

Die SPD hat bei den letzten Wahlen in alle Richtungen verloren. Sie muss auch künftig als „Schutzmacht der kleinen Leute“ fungieren, doch muss sie zugleich in das Aufstiegsbürgertum ausstrahlen, wenn sie mehrheitsfähig sein will.

Die SPD muss wieder ein besonderes Verhältnis zu den Kulturschaffenden gewinnen. Generell ist – wenn die SPD aus dem 20%-Turm herauskommen will – eine Zielgruppen bezogene Arbeit nötig.

Die SPD braucht eine Diskussion darüber, wie sie Offenheit zur Gesellschaft und demokratische Willensbildung in der Partei zusammenbringt. Auch die Frage neuer Kommunikationsformen stellt sich in diesem Zusammenhang. Dabei bleibt richtig: Die Basis der SPD sind die Ortsvereine. Sie müssen gestärkt und in ihrer Arbeit modernisiert werden.

Sozialdemokraten „kümmern“ sich zu Recht um die Menschen und ihre konkreten Probleme. Dies sollte sie auch künftig tun. Von der SPD wird darüber hinaus aber ein zukunftsfähiges Gesamtkonzept verlangt und seine glaubwürdige Vertretung durch Repräsentanten der Partei.

 

III)        Zu den sozialdemokratischen Grundanliegen

Die SPD hat eine Reihe von Grundanliegen, die sie stets verfolgt hat. Doch sie darf nicht in der Vergangenheit leben. Sie muss diese Grundanliegen im Hinblick auf die Gegenwart weiterentwickeln und konkretisieren und sie muss diese in zeitgemäßen Formen vertreten:

 

(1) Ihr ging es immer darum, den Kapitalismus wenn nicht zu überwinden, so doch durch Mitbestimmung und Sozialstaatlichkeit einhegen. Dies gelang bis zu einem gewissen Grade bis  in die 1970er Jahre hinein. Seit den 1970er und 1980er Jahren hat sich bei tendenziell sinkenden Wachstumsraten ein ein neuer globalisierter Kapitalismus durchgesetzt, den es zu zähmen gilt. Den Kapitalismus zu begrenzen und Regeln zu unterwerfen, ist eine sozialdemokratische Jahrhundertaufgabe. Europa ist für diese Aufgabe eine wichtige Ebene. Hierfür müssen wir neu ansetzen.

 

(2) Die SPD hält den Sozialstaat zu Recht für eine große Errungenschaft für die Menschen unseres Landes. Dementsprechend hat sie wie keine andere Partei ein mittelfristiges Rentenkonzept und sozial orientiertes Steuerkonzept entwickelt. Sie hat aber kontinuierlich zu prüfen, wo es Handlungsbedarfe gibt, zu denen zur Zeit gehören: die Pflege alter Menschen, die Überwindung des Zweiklassengesundheitssystems, Hilfen für Alleinerziehende und die Schaffung preiswerten Wohnraums. In diesem Feld sollte sich die SPD in ihrer Sensibilität von keiner Partei übertreffen lassen. Dennoch reicht es nicht aus, sich gleichsam als „Betriebsrat“ der Nation zu verstehen und den anderen die Gestaltung der „übrigen“ Politik zu überlassen. Die soziale Frage besitzt auch eine kulturelle Dimension. Diese hat die SPD unterschätzt.

(3) Die SPD war stets auch eine Bildungs- und Kulturbewegung. In der Bil

dungspolitik muss die SPD darüber hinausgelangen, lediglich Schulgebäude zu modernisieren (so wichtig dies ist!) und die Ausstattung der Schulen zu verbessern. Sie muss ihren Bildungsbegriff im Hinblick auf die veränderte Gesellschaft zu klären, wobei es um mehr als um bloße Anpassung gehen muss: Selbstständigkeit, Kontaktfähigkeit, soziale Verantwortung sind wichtige Ziele zeitgemäßer Bildung. Und sie muss sich stärker den qualitativen Aspekten der Arbeit in den Bildungseinrichtungen zu wenden. So wenig wie es akzeptiert werden kann, dass immer noch tausende von Jugendlichen keinen schulischen Abschluss erhalten, so wenig kann hingenommen werden, dass sich das qualitative Niveau in öffentlichen Bildungseinrichtung absenkt.

 

(4) Die SPD muss die Partei der Arbeit bleiben. Die Veränderung der Arbeitsorganisation ist stärker als Chance auch für die Arbeitnehmer zu begreifen. Wir sollten darauf achten, dass wir unsere Industrien modernisieren und der Deindustrialisierung entgegenwirken, Verluste an Arbeitsplätzen in diesem Bereich jedoch ausgleichen durch Schaffung von Tätigkeiten im tertiären Bereich für die systematischer auszubilden ist. Der weiteren Ausbreitung des Niedriglohnsektors ist entschieden entgegenzutreten. Weiterbildung ist in allen Bereichen zu fördern, um lebenslanges Lernen zu ermöglichen.

 

(5) Zu Recht hat die SPD den Gedanken des Gemeinwohls stets hervorgehoben. Heute geht es in Deutschland darum, in einer großen Kraftanstrengung die Infrastruktur umfassend zu erneuern. Für diese Erneuerung ist ein umfassendes sozialdemokratisches Investitions- und Innovationskonzept zu erarbeiten.

 

IV) Die SPD und die „ aus den Fugen geratene“ Welt“

Die SPD muss fundierte Positionen zu folgenden Problemkomplexen entwickeln:

  • Zum Problem des Populismus und Nationalismus, das sich in den meisten europäischen Ländern, auch in den USA und in der Türkei zeigt. Es reicht nicht aus, den Populismus mit pejorativen Etiketten zu versehen. Untersuchen müssen wir die Ursachen seines Anwachsens; davon ausgehend sind Möglichkeiten und Wege zu bestimmen, um Populismus zurückzudrängen.
  • Zur Schwächung der Funktionsfähigkeit der internationalen Organisationen, etwa der UNO.
  • Zum Niedergang der Sozialistischen Internationale.
  • Zum Kampf der Kulturen und Religionen, der keineswegs ausschließlich als Funktion sozialer Konflikte erklärbar ist.
  • Zum globalisierten Finanzkapitalismus, der als problematische Seite der Globalisierung zu begreifen ist.
  • Zum Verhältnis der führenden Industrieländer, der Schwellenländer und der übrigen Länder.

 

V) Politikfelder, in denen sich die Sozialdemokratie stärker engagieren muss

  1. Die Sozialdemokratie ist die Partei der Freiheit. Freiheit kann jedoch nur gelebt werden, wenn Menschen in Sicherheit leben können. Eine der elementarsten Aufgaben des Staates ist die Gewährleistung von Sicherheit und der Schutz vor Kriminalität. Diesem Feld hat sozialdemokratische Politik auf allen Ebenen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dazu gehört der Kampf gegen islamistischen Terror ebenso wie der Kampf gegen Banden- und Alltagskriminalität.
  2. Die SPD ist die Partei der Gerechtigkeit. Die SPD muss zur Verwirklichung dieses Maßstabes auch Fragen der auskömmlichen Finanzierung des Staatswesens vertiefend in den Blick nehmen und die Umverteilungsdebatte weiter vorantreiben. Soziale Verantwortung zu übernehmen, ist keine isolierte staatliche Aufgabe sondern eine der vornehmsten Bürgerpflichten.
  3. Die SPD ist die Partei Europa. Sie muss ein realistisches Programm zur Weiterentwicklung der EU erarbeiten. Dazu gehört eine Weiterentwicklung der Institutionen, ein Austarieren von Feldern transnationaler Zusammenarbeit und staatlicher Eigenverantwortlichkeit. Deutschland wird angesichts der Neuorientierung der USA nicht umhin können, der EU eine verteidigungspolitische Komponente hinzuzufügen. Die SPD weiß um die Bedeutung des europäischen Marktes und seiner vielfältigen Handelsbeziehungen. Gemeinsam mit den europäischen Partnern muss die SPD eine Politik der internationalen Solidarität mit den Menschen außerhalb der EU betreiben, die deren Interesse nach gerechtem Lohn und fairen Handelsbeziehungen sowie nach Schutz ihrer Lebensgrundlagen mit einschließt.
  4. Die SPD ist die Partei der internationalen Zusammenarbeit und der Solidarität mit Demokraten in aller Welt. Sie muss die transnationale Zusammenarbeit in Europa intensivieren, um nachhaltige, soziale und demokratische Politik in Europa zu ermöglichen. Sie hat ein realistisches Bild der Grenzen Europas, was insbesondere ein langfristig tragfähiges Verhältnis zur Türkei und zu Russland einschließt. Auch das Verhältnis zu den USA ist neu zu bestimmen, sollte die Neuorientierung amerikanischer Politik dauerhaft sein („America first“).
  5. Die SPD ist die Partei der Moderne und des Fortschritts. Sie muss sich der komplexen Aufgabe annehmen, technischen Fortschritt mit sozialem und ökologischem Fortschritt zu verbinden und politische Konzepte erarbeiten, die die sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen langfristig sichert und schützt.
  6. Die SPD ist die Partei der Gleichberechtigung. Frauen bilden die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, mit enormen politischen Potential. Die SPD muss sich noch stärker mit den Belangen von Frauen auseinandersetzen. Hierzu ist das inhaltlich-politische Angebot der SPD für Frauen weiter auszubauen. Im Hinblick auf Lohngerechtigkeit stärker in den Blick zu nehmen sind hier auch die „typischen Frauenberufe“ in häufig kleinteiligen Arbeitsstrukturen und die Frage, wie in diesen Feldern gemeinsam mit den Gewerkschaften eine Verbesserung der Entlohnung erzielt werden kann.
  7. Die SPD ist die Partei der Kultur. Sie muss den komplizierten Fragen der Kultur größere Aufmerksamkeit zuwenden. Dies betrifft sowohl die Kulturpolitik auf der Ebene der Kommunen, der Länder und des Bundes als auch das widersprüchliche Verhältnis von Kulturen und Religionen. Die Sozialdemokratie hält den Wertekanon des Grundgesetzes für nicht verhandelbar. Sie fördert die deutsche Kultur in dem Wissen, dass sie sich im engen Zusammenwirken mit den anderen europäischen Kulturen entwickelt hat und weiterentwickeln sollte. Weltoffenheit kann nicht heißen, alles – auch unsere Werte – als beliebig zu betrachten. Sozialdemokraten wissen, dass gerade im Zeitalter der Globalisierung Menschen sich nach „Heimat“ (im weiteren Sinne) sehnen, wie Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede am 3. Oktober hervorgehoben hat. Zu diesem Kontext gehört ein realistisches Integrationskonzept, das auch auf politisch-kulturelle Aspekte nicht verzichtet und um die Hypotheken deutscher und europäischer Geschichte weiß.

 

VI) Strukturelle Fragen

  1. Die Willensbildung in der Partei muss von unten nach oben und von oben nach unten erfolgen; bei manchen Fragen ist die Willensbildung auch auf horizontaler Ebener nötig.
  2. Die Repräsentanten an der Parteispitze haben eine Führungsaufgabe. Die Parteiführung sollte darauf verzichten, sich nur taktisch zu verhalten. Zu zentralen Fragen, wie etwa der Flüchtlingspolitik, muss es eine eigene sozialdemokratische Position geben.
  3. Die Partei muss sich von der Illusion verabschieden, nur eine Person könnte die Geschlossenheit demonstrieren und die Breite der Sozialdemokratie repräsentieren. Ob auf Bundes- oder Landesebene: Es muss ein Führungsteam sichtbar werden.
  4. Die Partei muss sich stärker öffnen für gesellschaftliche Dialoge.
  5. Die SPD sollte zu wichtigen Fragen regelmäßig Foren veranstalten, auch Blogs im Internet anbieten.
  6. Selbstverständlich sollte sein, dass die Spitzenleute, insbesondere der Kanzlerkandidat, bei der Festlegung des Kurses eine wesentliche Rolle spielen. In Wahlkämpfen müssen Personalangebot und Programm zusammenpassen.
  7. Die NRWSPD muss in der Opposition ein neues landespolitisches Profil entwickeln, das der vielfältigen Identität des Landes entspricht und insbesondere die Zukunftsfähigkeit des Reviers stärkt.
  8. Die SPD muss ihre organisatorischen Strukturen in Frage stellen. Sie muss klären, wie sie eine zeitgemäße Betreuung in der Fläche sicherstellt, welches Anforderungsprofil sie von hauptamtlichen Kräften erwartet und wie sie diese weiterbildet. In NRW müssen wir klären, ob sich die überkommene Bezirks-/Regionalstruktur überlebt hat, wenn sie keine politischen Impulse mehr vermittelt und die Lebenswirklichkeit der Menschen nicht abbildet. Eine Doppelorganisation Region/Ruhr führt in keinem Fall weiter.
  9. Die SPD muss wieder lernen, Wahlkämpfe professionell zu führen und braucht dafür mehr Aktivisten, die rechtzeitig vor einer Wahl gewonnen werden müssen. Bewährte und neue Instrumente müssen zusammengeführt und nicht nebeneinander betrieben werden.

 

VII)      Zum Image der Partei

Die SPD hat in den letzten Jahren häufig nicht selbstbewusst gewirkt:

  • Ihr Politikverständnis war allzu reaktiv und widersprach dem sozialdemokratischen Verständnis, die Gesellschaft in langfristiger Perspektive zukunftsorientiert gestalten zu wollen; die Politik wirkte vielfach kleinschrittig, es mangelte an tragfähigen sozialdemokratischen Konzepten. Regierungsmitglieder und Parteiführung schienen unabgestimmt zu handeln.
  • Sie hat ihre Position – so jedenfalls der Anschein – erst in Reaktion zu den anderen Parteien bestimmt.
  • Der sozialdemokratische Politikbetrieb wirkt teilweise ritualisiert und allzu selbstreferentiell, er muss sich stärker zur Gesellschaft und ihrer Diskussion öffnen, diese allerdings auch beeinflussen wollen.
  • Die innerparteiliche Diskussion war z.T. durch Auseinandersetzungen von (vor)gestern bestimmt (Agenda-Prozess). Die Flügelbildung lässt nicht nur das demokratische Profil z.T. unscharf erscheinen, sondern führt z.T. sogar zur politischen Lähmung (wie etwa in Fragen der inneren Sicherheit und der Integration).
  • Die Partei darf in ihrem Agieren nicht als Teil des Problems erscheinen, sondern muss als politische Kraft mit Lösungskompetenz auftreten.
  • Die Partei leistet sich oftmals eine Personalauswahl, die zu sehr auf innerparteiliche Verteilungsmuster fixiert ist statt auf Kompetenz und Können, Ausstrahlung und Auftreten.

 

Die Partei muss – wie Willy Brandt formuliert hat – „auf der Höhe der Zeit“ sein, wenn sie erfolgreich sein will. Sie muss wieder als moderne offene Partei erscheinen, ohne indes jedem kurzlebigen Trend des Zeitgeistes nachzulaufen. Im Bewusstsein einer großen Geschichte hat sie umsichtig und mutig zugleich ihre Politik im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft umfassend zu erneuern und durch geeignete Repräsentantinnen und Repräsentanten an der Spitze und auf allen Ebenen glaubwürdig zu vertreten.

Empfehlung der Antragskommission:
Überweisen an: SPD-Landesvorstand NRW als Material für Erneuerungsprozess
Version der Antragskommission:

SPD-Landesvorstand NRW als Material für Erneuerungsprozess