EU-05 Zehn Jahre Krise sind genug - Den Euro demokratisieren und eine progressive europäische Wirtschafts-, Industrie- und Handelspolitik schaffen

Der Zustand der Europäischen Union lässt sich seit einigen Jahren zunehmend mit dem Spruch „Gestern noch vor dem Abgrund, heute schon einen Schritt weiter“ beschreiben. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise vor zehn Jahren keimen kontinuierlich neue Krisenherde auf, die nicht nur zu wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen innerhalb der Union, sondern auch zu einem Vertrauensverlust in die europäischen Institutionen und die europäische Idee und dem Erstarken des Nationalismus geführt haben. Den traurigen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das Votum der Brit*innen gegen die EU-Mitgliedschaft im Juni 2016 dar. Seit dem Brexit-Votum befindet sich die Europäische Union in ihrer wohl schärfsten Krise seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957. Konnte die EU bislang Krisen immer zur Vertiefung der europäischen Integration nutzen, besteht nun zum ersten Mal bei einer Häufung der Krisenherde – neben dem Brexit sind vor allem die Euro-Krise, das Scheitern einer solidarischen Verteilung von Geflüchteten, der Krieg in der Ukraine und die Wahlerfolge nationalistischer Parteien zu nennen – ernsthaft die Möglichkeit des Scheiterns des Europäischen Projektes.

In dieser Situation reicht ein politisches Spannungsfeld zwischen rechten und linken Antieuropäer*innen und proeuropäischen Marktliberalen nicht aus. Die europäische Integration ist als supranationales Projekt der Weg, mit dem im Zeitalter des zunehmend globalisierten Kapitalismus und der längst ausgehöhlten Nationalstaaten demokratische Kontrolle über die freien Märkte erlangt werden kann. Funktionieren kann das aber nur, wenn es zu keinem Stillstand der Integration kommt, wie ihn etwa Wolfgang Schäuble fordert. Die Fortsetzung der europäischen Integration kann nur mehr Demokratie und mehr Gerechtigkeit heißen.

Demokratie und Gerechtigkeit sind hierbei nicht zwei voneinander losgelöste Ziele, sondern hängen eng zusammen. Ein demokratischeres Europa heißt auch, die Menschen in die europäischen Entscheidungen einzubinden, die wirtschaftlich zunehmend abgehängt werden. Der Kampf etwa gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa muss weiterhin zentraler Bestandteil einer jeden europapolitischen Debatte bleiben.

Der aktuelle Diskurs zu Strategien, wie man die Arbeitslosigkeit in Südeuropa senken kann, orientiert sich hegemoniell an der neoliberalen Strategie der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Europas. Die Folge ist, dass vor allem in Südosteuropa unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit die Arbeitnehmer*innen- und Gewerkschaftsrechte zunehmend geschwächt werden, um gerade in exportabhängigen Wirtschaften die Sozialstandards und Lohnkosten zu drücken.

Investitionen in Forschung und Entwicklung auch für die europäische Peripherie sind unerlässlich. Die Stärkung der europäischen Peripherie ohne eine Schwächung des Zentrums ist bedeutsam, um die Fliehkräfte innerhalb EU zu bremsen und das Problem der Abwanderung aus der europäischen Peripherie zu adressieren. Um diese Ziele umzusetzen, reichen Reformen der zumeist nach nationalstaatlichen Interessen geleiteten europäischen Wirtschaftspolitik nicht aus. Notwendig sind Reformen der europäischen Institutionen. Die Reform einer Union aus 28 – ohne Großbritannien 27 – Staaten ist in dieser Lage dermaßen komplex, dass eine Konzentration auf die Integrationsvertiefung und die Institutionalisierung der Eurozone sinnvoll erscheint. Wobei wir unter Eurozone auch alle “willigen” Staaten verstehen, die den Euro mittelfristig einführen wollen und werden. Allerdings lassen sich viele der später beschriebenen Reformvorschläge auch auf die ganze Union ausweiten, sodass die Eurozone als Kerneuropa nicht zu einer geschlossenen Gesellschaft werden darf, sondern auch für Länder der europäischen Nicht-Euro-EU offen stehen muss.

Um die Integration der Eurozone voranzutreiben, muss die Eurozone als politische, wirtschaftliche und soziale Union ausgebaut werden. Als politische Union müssen die Entscheidungswege der Eurozone nicht nur effektiver, sondern auch demokratischer gestaltet werden. Als wirtschaftliche Union braucht die Eurozone Wachstum, das es nur mit mutigen Investitionen und einer Stärkung der gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz-, und Haushaltspolitik gibt. Und als soziale Union müssen Umverteilungsmechanismen die zunehmende Ungerechtigkeit sowohl innerhalb als auch zwischen den Mitgliedsstaaten bekämpfen.

Eine besondere Aufgabe fällt in dieser Lage der europäischen Sozialdemokratie zu. Nur wenn die Sozialist*innen in Europa ihrem internationalistischem Anspruch gerecht werden und für ein solidarisches Europa und nicht für die Vertretung nationaler Interessen kämpfen, können sie die Zukunft eines demokratischeren und gerechteren Europas gestalten.

Um die Eurozone demokratischer und gerechter zu gestalten, schlagen wir folgende Instrumente vor:

  • Die Schaffung einer Euro-Finanzminister*in und einer Euro-Kammer im EU-Parlament. Es ist an der Zeit, den Geburtsfehler des Euro zu beheben: Eine gemeinsame Währung kann ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht funktionieren. Die hier geforderte Kompetenzverlagerung in die Eurozone muss, wenn sie demokratisch legitimiert sein will, durch demokratische Institutionen geschehen. Deshalb plädieren wir für die Schaffung einer Euro-Finanzminister*in, die die gemeinsame Politik koordiniert, und einer Euro-Kammer im EU-Parlament. Die Euro-Kammer setzt sich als Ausschuss des EU-Parlamentes aus EU-Parlamentarier*innen der Länder der Eurozone zusammen. Ihre Beschlüsse werden im EU-Parlament beraten und beschlossen. Die Euro-Finanzminister*in wird durch die Euro-Kammer gewählt und demokratisch kontrolliert. Eine Euro-Kammer hat gegenüber einem eigenen Euro-Parlaments den Vorteil, dass die Abgrenzung zwischen Eurozone und Europäischer Union weniger stark ausfällt und so die Integration von Nicht-Euroländern leichter fällt. Zusätzlich können Vertreter*innen nationaler Parlamente nicht stimmberechtigte Mitglieder der Euro-Kammer sein. Vertreter*innen von Nicht-Euro-Staaten können der Euro-Kammer mit Beobachtungsstatus angehören. Von diesem Reformschritt muss ein klares Signal der Offenheit der Euro-Zone ausgehen. Auch der Eindruck einer Abgrenzung gegenüber den EU Mitgliedern außerhalb des Euro muss vermieden werden.
  • Die Schaffung eines Eurozonen-Budgets, finanziert aus einem Anteil der endlich umzusetzenden Finanztransaktionssteuer, einem Anteile der nationalen Körperschaftssteuern oder weniger schwankungsanfälligen Steuern und möglicherweise zusätzlich aus einer eigenen konjunkturabhängigen Eurozonen-Steuer oder Beiträgen der Eurozonen-Staaten. Das Budget sollte für Investitionen in Infrastrukturprojekte und für den Aufbau eines europäischen Sozialsystems verwendet werden.
  • Die Schaffung einer europäischen Arbeitslosenversicherung und eines europäischen Kurzarbeiter*innengeldes aus Mitteln des Eurozonen-Budgets. Die europäische Sozialpolitik wird aufgrund der starken Unterschiede der Sozialstaatsmodelle in den Mitgliedsstaaten zunächst nicht die nationale Sozialpolitik ersetzen können. Ziel dieser Politik muss es deshalb sein, die nationalen Sozialschutzsysteme einander anzunähern. Eine europäische Arbeitslosenversicherung bietet sich an, um die sozialen Transfers von reicheren zu ärmeren Eurozonen-Staaten zu organisieren. So können bei asymmetrischen ökonomischen Schocks und hoher Arbeitslosigkeit in einzelnen Euro-Staaten die nationalen Sozialsysteme entlastet werden. Wichtig sind dabei klare Regelungen, sodass die europäische Arbeitslosenversicherung nicht als Anreiz zu weniger Bekämpfung struktureller Arbeitslosigkeit gesehen werde kann. Es muss also klare Kriterien und zeitliche Befristungen geben.

Weil für die Umsetzung einer solchen europäischen Arbeitslosenversicherung ein langer Weg notwendig ist, ergibt es Sinn, im Vorgriff schon ein europäisches Kurzarbeiter*innengeld nach deutschem Vorbild einzuführen. Mit diesem Mittel können Arbeitnehmer*innen, ergänzend zu den unterschiedlichen nationalen Kurzarbeiter*innenzahlungen, bei konjunkturell bedingtem Arbeitsausfall zeitlich begrenzt Zahlungen für ausfallende Arbeitsstunden erhalten. Verbinden lassen sich diese Zahlungen auch mit dem EU-Globalisierungsfonds, sodass die Weiterbildung von Arbeitnehmer*innen in Kurzarbeit stärker bezuschusst werden kann.

  • Mehr Investitionen in die Zukunft Europas. Die Austeritätspolitik, die in den vergangenen Jahren besonders von der deutschen Bundesregierung durchgesetzt wurde, führt vor allem im Süden Europas zu katastrophalen Wachstumseinbrüchen. Arbeitslosigkeit und eine noch höhere Staatsverschuldung sind die Folge. Um vor allem die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Staatsschulden langfristig und nachhaltig zu sanieren, bedarf es stärkerer europäischer Investitionen. Außerdem werden Maßnahmen benötigt, die die Binnennachfrage in den Staaten mit exzessivem Leistungsbilanzüberschuss, der zulasten von anderen Ländern geht, stimulieren.
  • Ein begrenztes Umschuldungsprogramm, in dem die Staaten der Eurozone gesamtschuldnerisch für die Staatsverschuldung bis zur Maastricht-Grenze von 60 Prozent des BIP haften.
  • Einen Pakt für europäische Mindestlöhne, der Korridore für faire Mindestlöhne gemessen am Durchschnittseinkommen in den Mitgliedsstaaten festlegt sowie Mindeststandards für nationale Systeme der Mindestsicherung und die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen.
  • Die Koordinierung der europäischen Steuerpolitik um Steuerdumping zu bekämpfen.
  • Eine Verbesserung der Abstimmung zwischen den Sozialpartner*innen auf Eurozonen- Ebene. Dafür ist eine stärkere Einbindung der Sozialpartner*innen in das Europäische Semester notwendig. Außerdem muss die europäische Mitbestimmung ausgeweitet und europäische Koordinierungsinstrumente zwischen den Sozialpartnern aufgebaut werden. Ein wichtiger Schritt dazu ist eine Europäische Säule sozialer Rechte, die soziale Grundrechte in den EU-Verträgen rechtlich auf die gleiche Ebene stellt wie die vier wirtschaftsliberalen Grundfreiheiten des Binnenmarktes. Das Hauptaugenmerk der verbesserten Abstimmung der Sozialpartner*innen muss auf koordinierten Lohnsteigerungen, der Steigerung der europäischen Investitionen und einem gerechten Übergang ins Zeitalter der Digitalisierung liegen.
  • Die Überführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus in Gemeinschaftsrecht und die Weiterentwicklung zu einem Europäischen Währungsfonds.
  • Implementierung einer nachfrageorientierten Wende in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik in Europa statt Anreize für strukturelle Angebotspolitik z.B. als Folge einer Steigerung des Wettbewerbsdrucks durch das Abschließen von Freihandelsabkommen mit anderen Volkswirtschaften/ Wirtschaftsräumen, mit denen keine gemeinsame Ebene für demokratische Repräsentation etabliert ist. Ein demokratisches Europa, in dem nachfrageorientierte Fiskal- und Wirtschaftspolitik umgesetzt wird ist die Grundlage für gute Arbeit, fairen Welthandel und die Verminderung der Fliehkräfte zwischen dem Zentrum und der Peripherie Europas.
  • Einen politischen Vorrang für die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes vor internationalen Freihandelsabkommen.
  • Schaffung einer aktiven Innovationspolitik für die Europäische Union, die die Problematik des „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ berücksichtigt, indem die dezentrale Förderung von wettbewerbsfähigen Innovations-Clustern gefördert wird. Positive historische Beispiele für gemeinschaftliche Projekte stellen zum Beispiel Airbus oder auch die Förderung der europäischen Raumfahrtindustrie im Rahmen der Aktivitäten der Europäischen Weltraumorganisation ESA dar.
  • Langfristig verfolgen wir das Ziel, dieses System abzulösen und alle Entscheidungen direkt durch das Europaparlament zu fällen.
Empfehlung der Antragskommission:
Überweisen an: AK Europa der NRWSPD, SPD-Abgeordnete im Europäischen Parlament, SPD-Parteivorstand
Version der Antragskommission:

– Parteivorstand als Material zur Erarbeitung des Europawahlprogramms
– SPD-Landesvorstand NRW und AK Europa der NRWSPD als Material zur Erarbeitung einer Positionierung der NRWSPD zur Europawahl

Beschluss: Überweisung an: SPD-Parteivorstand als Material zur Erarbeitung des Europawahlprogramms und SPD-Landesvorstand NRW und AK Europa der NRWSPD als Material zur Erarbeitung einer Positionierung der NRWSPD zur Europawahl
Beschluss-PDF:
Stellungnahme(n):
Überwiesen am 09.07.2018 an: SPD-Parteivorstand als Material zur Erarbeitung des Europawahlprogramms, SPD-Abgeordnete im Europäischen Parlament, AK Europa der NRWSPD als Material zu Positionierung der NRWSPD zur Europawahl