Das Arbeitszeitgesetz bietet auch für die sogenannte „neue Arbeitswelt“ einen guten Ordnungsrahmen, der vor einer Entgrenzung der Arbeitszeit schützt. Die Regelungen zu Pausen- und Ruhezeiten sowie zu täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeiten sind mit den Anforderungen agilen und digitalen Arbeitens kompatibel.
Ein vielfach von konservativer und neoliberaler Seite geforderter „Experimentierraum“, der zum Beispiel die Abschaffung der täglichen Höchstarbeitszeit beinhaltet, ist abzulehnen. Die SPD darf sich auch in künftigen Koalitionsverhandlungen auf etwaige Vereinbarungen, die solche Versuche beinhalten, nicht einlassen. Für uns geht es nicht darum, den gesetzlichen Rahmen aufzuweichen, damit er zu einer vermeintlich neuen Arbeitswelt passt. Vielmehr muss unser Ziel sein, eine Arbeitswelt zu schaffen, in der die geltenden Regelungen eingehalten werden.
Deswegen fordern wir:
- Hände weg vom Acht-Stunden-Tag: Die Regelungen zur täglichen Arbeitszeit von acht Stunden beziehungsweise der auszugleichenden Höchstarbeitszeit von 10 Stunden hält Bestand. Zu einer modernen Arbeitswelt passen keine Arbeitszeitregelungen aus dem Kaiserreich.
- Keine falschen Flexibilitäts-Diskussionen: Wenn wir über eine Flexibilisierung der Arbeitswelt fordern, meinen wir damit mehr Freiräume für Familie und Freizeit und keine weitere Entgrenzung zwischen Arbeit und Leben. Die Sozialdemokratie darf nicht der neoliberalen Erzählung auf den Leim gehen, dass die Aufweichung von Höchstarbeitszeitregelungen nicht in die moderne Arbeitswelt passe. Stattdessen muss es die SPD sein, die eine eigene Erzählung über die Arbeitswelt von morgen entwickelt.
- Ein Recht auf Abschalten: Wir unterstützen keine Gesetzesinitiativen, die eine Dauer-Erreichbarkeit abhängiger Beschäftigter zur Konsequenz hat.
- Respekt vor der Tarifautonomie: Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, sogenannte „Experimentierräume“ oder Öffnungsklauseln für die Tarifparteien gesetzlich zu schaffen, die am Ende vornehmlich zur Verschlechterung der Situation von Beschäftigten führen. Das, was Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände auf die Tagesordnung von Tarifverhandlungen setzen, ist alleine ihre Aufgabe.
- Den Anspruch auf Arbeit im „echten“ Homeoffice: Dazu gehört die Definition von Standards und die Einhaltung von bestehenden Regeln des Arbeitsschutzes, damit mobiles Arbeiten nicht zur Gefahr wird.
- Eine Stärkung der Rechte von Betriebsräten im Bereich der Personalplanung, beim Einsatz von Selbständigen bzw. anderen außerbetrieblichen Arbeitskräften im Betrieb, beim Einsatz von künstlicher Intelligenz, sowie stärkere Sanktionsmöglichkeiten für Betriebsräte im Falle von Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz.
- Eine echte Kontrolle: Es ist zu erwarten, dass die Dunkelziffer bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz deutlich höher liegt als die Quote, die von den Behörden durch sporadische Kontrollen festgestellt wird. Beschäftigte verdienen hier einen besseren Schutz. Unternehmen müssen wissen, dass ernsthafte Konsequenzen drohen, wenn Beschäftigtenschutzrechte gebrochen werden.
Etwaige Bemühungen, das Arbeitszeitgesetz zu öffnen oder andere Schutzrechte aufzuweichen, werden abgelehnt. Diese Ablehnung soll Einzug in das Regierungsprogramm zur Bundestagswahl 2021 finden. Eine Koalitionsvereinbarung, die eine Aufweichung der Arbeitszeitregelungen beinhaltet, darf es mit der SPD nicht geben.
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wurde vereinbart, dass ein entsprechender „Experimentierraum“ für die Tarifvertragsparteien geschaffen werden solle, der unter anderem die tägliche Höchstarbeitszeit kippen könnte. Dieses Zugeständnis gegenüber der Union hat unter anderem dazu geführt, dass auf Grundlage eines fraktionsübergreifenden Antrags ein Beschluss im Landtag NRW gefasst wurde, der diesen Experimentierraum erneut einfordert. Inhalt dieses Beschlusses sind weitere Maßnahmen und Empfehlungen, die aus unserer Sicht eine weitere Entgrenzung des Arbeitslebens zur Folge hätten.
Die SPD hat 1918 wesentlich dazu beigetragen, dass der Acht-Stunden-Tag Realität geworden ist. Die ArbeiterInnenbewegung hat lange dafür gekämpft, dass diese tägliche Höchstarbeitszeit die Arbeitszeitregelungen des Kaiserreichs abgelöst hat. Aus gutem Grund gehörte diese Entscheidungen zu den ersten Veränderungen der jungen Weimarer Demokratie.
Es ist an der Zeit, über eine Arbeitswelt zu diskutieren, die einen Rahmen für ein selbstbestimmtes Leben schafft. Dazu gehören Freiräume für das Ehrenamt: Schon heute berichten viele Beschäftigte darüber, dass sie erhebliche Probleme im Betrieb bekommen, wenn sie sich zum Beispiel bei der Freiwilligen Feuerwehr engagieren. TrainerInnen von Jugendmannschaften müssen sich zudem auf Arbeitszeiten verlassen können. Mit einer Arbeitswelt, in welcher der Rahmen für Arbeits-, Ruhe- und Pausenzeiten zunehmend verschwinden soll, wird ehrenamtliches Engagement, das unsere Gesellschaft zusammenhält, nur schwierig zu vereinbaren sein. Beschäftigte, die zum Beispiel heute in sogenannten Konti-Schicht-Modellen teilweise sieben Tage in verschiedenen Schichten durcharbeiten, können sich faktisch nicht ehrenamtlich engagieren. Auch für das politische Ehrenamt geht hier viel Wissen und Können aus dem Beschäftigtenleben verloren!
Auch aus feministischer Perspektive erscheint die vermeintliche Traumwelt vom vollflexiblen Arbeiten gefährlich. Wo neoliberale Kräfte unterstellen, dass eine flexiblere Arbeitswelt dazu führe, Familie und Beruf besser unter einen Hut zu bekommen, droht tatsächlich ein Verlust von Kontrolle auf Zeit und Leben – insbesondere für Frauen, die immer noch stärker in Erziehungs- und sonstige Care-Arbeit eingebunden sind als Männer. Wenn Arbeitszeit unterbrochen werden darf, um beispielsweise von 13 bis 17 Uhr für Familie und Haushalt da sein zu dürfen, entfällt die restliche Arbeit im Regelfall nicht. Nach 17 Uhr müssten die restlichen Tätigkeiten einer Vollzeitstelle bis in den Abend nachgeholt werden. Tatsächlich wäre die freie Verfügung über Zeit erheblich eingeschränkt.
Dabei sind selbst solche Arbeitszeitmodelle Tatsächlich ist es schon heute so, dass die Ruhezeiten des Arbeitszeitgesetzes in bestimmten Umständen oder durch Tarifverträge um eine Stunde herabgesetzt werden kann. Die heutigen Regelungen des Gesetzes zu Ruhezeiten lassen zu, um 21 Uhr eine Dienstmail zu lesen und um 8 Uhr morgens am Folgetag den Bürodienst antreten zu dürfen. Je nach Tätigkeit, Umfeld oder Tarifvertrag kann die vorgesehene Ruhezeit sogar auf 10 Stunden reduziert werden. Schon heute sind flexiblere Arbeitszeitmodelle möglich.
Jede weitere Entgrenzung mag einem Zeitgeist entsprechen, der blumig von den Vorteilen der neuen digitalen Arbeitswelt spricht. Darum darf es uns aber nicht gehen: Unser Ziel muss es sein, mehr Freiräume für ein selbstbestimmtes Leben und Arbeiten zu ermöglichen.
Ein Entfall der täglichen Höchstarbeitszeit kann dazu führen, dass Beschäftigte im Einzelhandel (Stichwort: Ladenöffnungszeiten bis 24 Uhr), in den Gesundheitsberufen oder im industriellen Schichtbetrieb gleich zweimal am Tag zur Arbeit antreten dürfen. Die bereits heute angewendeten Konti-Schicht-Modelle sind nicht weit weg von dieser Dystopie.
Eine kritische Betrachtung sogenannter Öffnungsklauseln und „Experimentierräume“, die der Gesetzgeber für die Tarifparteien (oder auch Betriebsparteien) schafft, ist dringend geboten: In der Regel führen diese Regelungen dazu, dass sich der Verhandlungsspielraum für Tarifverhandlungen einseitig für das ArbeitgeberInnen-Lager ausweitet. Dies führt oftmals dazu, dass in Tarifverhandlungen oder im Rahmen von Verhandlungen von Betriebsrat und Arbeitgeber die eröffneten Spielräume für Kopplungsgeschäfte zulasten der Beschäftigten genutzt werden. Insofern könnte auch ein „Experimentierraum Arbeitszeit“ für Tarifparteien, der eine Aufweichung der täglichen Höchstarbeitszeit möglich macht, für solche Kopplungsgeschäfte genutzt werden. Umstrittene Berufsverbände und Kleinstgewerkschaften könnten zudem auch aus anderen Motiven etwaige Experimentierräume tarifieren, um damit auch den Druck auf andere Gewerkschaften zu erhöhen. Die SPD tut gut daran, sich an solchen Öffnungsphantasien nicht zu beteiligen.
Politik und Medienwelt schauen bei der Debatte zum Thema Arbeitszeit zu oft durch die eigene Brille. Jede Aufweichung der geltenden Arbeitszeitregelungen führt dazu, dass Millionen Beschäftigte, die sich heute noch auf den Schutz des Arbeitszeitgesetzes verlassen können, bald schutzlos dastehen können. Die Debatte über die Arbeitswelt der Zukunft lässt zu oft außen vor, dass eine Mehrheit der Beschäftigten weiterhin sehr gut mit den bestehenden Arbeitszeitregelungen leben kann. Es ist also eher geboten, die vermeintlich neue Arbeitswelt an die vernünftigen und notwendigen Regelungen zum Schutz der Beschäftigten anzupassen. Wer den besonderen Schutz des Arbeitsrechts für zu wenig flexibel hält, kann immer noch selbständig arbeiten.
Doch auch das Thema freie Berufe und Selbständigkeit bedarf einer neuen Bewertung: Es müsste auch darüber diskutiert werden, wie man (oftmals auch Schein-) Selbständige, die von ihren AuftraggeberInnen oder ProjektvermittlerInnen in der digitalen Welt abhängig sind, besser schützen kann. Ein Dienstleistungsprekariat darf sich nicht weiter etablieren.
Auch eine moderne Arbeitswelt braucht Grenzen. Der zunehmende Einsatz von künstlicher Intelligenz wird Beschäftigte an Grenzen bringen, was unter anderem ihre psychische Belastungsfähigkeit betrifft. „Augmented Reality“ wird viele Arbeitsprozesse vereinfachen, dennoch ist eine steigende psychische Belastung zu erwarten.
Die geltenden Regelungen des Arbeitsrechts müssen auch in Zukunft Bestandskraft haben. Ein Kicker, der den Abstellraum zum Pausenraum machen soll, macht immer noch keinen guten Arbeitgeber aus. Auch wenn das manche Unternehmen aus dem Silicon Valley so meinen. Gute Arbeitsbedingungen sind kein Marketing-Gag, sondern echter Schutz der Beschäftigten vor Entgrenzung.