EU-01 Für ein europäisches Zukunftsprogramm. Ein solidarisches, demokratisches, nachhaltiges Europa ist die Antwort.

Status:
Nicht abgestimmt

Vorbemerkung

 

Europa wird aktuell durch die Corona-Pandemie auf die Probe gestellt. Ganze Staaten wie Italien, Großbritannien und Spanien haben angesichts hoher Krankheits- und Todesraten in den Abgrund geblickt. Der Einbruch der Wirtschaft infolge der notwendigen „Lockdowns“ wird noch lange nachhallen und weitere Not, Schieflagen und Probleme nach sich ziehen. Insbesondere die wenig Privilegierten, wie Arbeitnehmer*innen im Niedriglohnsektor, Erwerbstätige ohne feste Beschäftigungsverhältnisse, Alleinerziehende, Flüchtlinge und Migranten, Kranke und Ältere, Auszubildende und Berufseinsteiger*innen sind von dieser Krise am stärksten getroffen. Diese Pandemie und ihre Nachwirkungen führen uns so in aller Deutlichkeit vor Augen, wie wichtig gesellschaftlicher Zusammenhalt und Solidarität sind. Auch über Landesgrenzen hinweg: denn eine globale Krise lässt sich nicht im nationalstaatlichen Rahmen und schon gar nicht durch nationalistische Maßnahmen bewältigen, sondern erfordert internationales und gemeinsames Handeln.

 

Auch die EU steht damit vor einer entscheidenden Weichenstellung: Gelingt ihr mit dem größten Wiederaufbauprogramm in der Geschichte der EU eine gemeinsame Kraftanstrengung, die den Grundstein für eine nachhaltige, solide und solidarische Zukunft legt? Oder droht der Einbruch der Wirtschaft in einigen Ländern den Euro, die eng miteinander verflochtenen Volkswirtschaften und in der Folge die gesamte EU in den Niedergang zu reißen?

 

So birgt die Krise neben dem Risiko wachsender Ungleichheit und sich verstärkender Abwärtsdynamiken auch die Chance für ein koordiniertes Anschieben von Zukunftsprojekten: beim Klimaschutz, bei der sozialen und ökonomischen Modernisierung sowie bei der Entwicklung von Zukunftstechnologien kann und sollte Europa Vorreiter sein und damit auch Vorbild werden für andere.

 

In dieser Lage hat Deutschland zum 1. Juli die europäische Ratspräsidentschaft übernommen. Der zwischen den Staats- und Regierungschefs vereinbarte Wiederaufbaufonds der Europäischen Union mit insgesamt 750 Milliarden Euro ist trotz der schwer errungenen Kompromisse von „historischer“ Dimension. Ebenso „historisch“ ist der Beschluss des Europaparlaments vom 23. Juli 2020, der eine Zustimmung an Nachbesserungen knüpft: mehr Geld für Klimaschutz und Forschung, sowie höhere Eigenmittel und die Einführung bestimmter EU-Steuern. Zudem soll die Rechtstaatlichkeit klarer und wirksamer eingefordert werden können, damit Mitgliedsstaaten nicht unverhohlen die gemeinsamen Grundwerte und Politiken unterlaufen und gleichzeitig von den Mitteln der Europäischen Union profitieren können.

 

Diese wegweisenden Beschlüsse sind ein wichtiger Anlass, die grundsätzliche Positionierung der Sozialdemokratie in Deutschland zur Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU auf die Agenda zu setzen. Dieses Papier soll dazu einen Beitrag leisten und das umkämpfte Wiederaufbaupaket in einen größeren und grundlegenderen Kontext einordnen.

 

Gliederung

 

  1. Sozialdemokratisches Europa: warum die Sozialdemokratie für ein starkes Europa eintritt und warum Europa den sozialdemokratischen Kompass braucht
  2. Zukunftsstrategien: welche Handlungsschwerpunkte die EU in der Krisenbewältigung setzen sollte
  3. Institutioneller Rahmen: wie sich die EU für die Zukunft neu aufstellen muss

 

I. Sozialdemokratisches Europa

 

Die SPD wird sich mit aller Kraft für eine starke, solidarische und sozial gerechte Europäische Union einsetzen, die der Demokratie und Nachhaltigkeit verpflichtet ist. Die europäische Zukunft hängt in entscheidender Weise von der gemeinsamen Krisenbewältigung und der Gestaltung des Wiederaufbaus in den kommenden Jahren ab. Hierfür braucht Europa einen klaren sozialdemokratischen Kompass. Unsere Vision für Europa ist ein Europa der gleichwertigen Lebensverhältnisse.

 

a) Wir Sozialdemokrat*innen stehen für ein selbstbewusstes und starkes Europa in der Welt

 

Die Globalisierung und Digitalisierung geht einher mit einer weltweiten Verschiebung der Machtzentren. Während die USA taumelt, steigt die wirtschaftspolitische Bedeutung Chinas. Gleichzeitig werden Demokratie, Menschenrechte und gemeinwohlorientierte Politik in maßgeblichen Teilen der Welt mehr und mehr ausgehöhlt. Umso wichtiger ist die Prinzipienfestigkeit Europas gegenüber den eigenen Werten geworden. Unsere über Jahrhunderte erkämpften sozialen Errungenschaften und gesellschaftlichen Werte dürfen gegenüber den aufkommenden Autoritären und Populisten nicht ins Hintertreffen geraten! Uns ist aber auch klar, dass Europa nur eine Chance hat, im internationalen Kräftespiel gegenüber China, den USA und Russland mitzuhalten, wenn die EU als gemeinsame starke Kraft auftritt. Eine Kette ist bekanntlich gerade mal so stark wie ihr schwächstes Kettenglied. Daher ist die Stärkung und Stabilisierung aller Teile Europas von existenzieller geostrategischer Bedeutung.

 

Gelänge es nicht, die besonders krisengeplagten Länder in der EU langfristig zu stabilisieren, führte dies aber auch zu einer wirtschaftlichen Schwächung der EU. Dies wäre für alle EU-Mitgliedsländer, ganz besonders auch für Deutschland verheerend: Nicht nur, dass Deutschland als Exportland auf den Handel innerhalb der EU angewiesen ist, da es 60% seiner Exporte in andere Länder der EU tätigt; sondern deutsche Unternehmen haben auch ihre Fertigungsprozesse und Lieferketten in den letzten Jahrzehnten innerhalb Europas grenzübergreifend optimiert und aufs engste mit europäischen Partnern verflochten. Ein finanzieller Kollaps südeuropäischer Euro-Länder würde also nicht nur dort notwendige Investitionen und Modernisierungen verhindern, in weiten Bevölkerungskreisen Südeuropas Wohlstandsverluste nach sich ziehen und damit eine wirtschaftliche Abwärtsspirale in Gang setzen. Auch die nordeuropäischen Volkswirtschaften, sowie der Zusammenhalt der Eurozone, und damit deutsche Arbeitsplätze wären dadurch unmittelbar bedroht.

 

Die wirtschaftliche Stabilisierung unserer engsten Partner, sowie eine breite und ausgeglichene Verteilung von Vermögen innerhalb Europas nützen also allen, einschließlich Deutschland, indem sie Arbeitsplätze überall in Europa sichern, Arbeitnehmer*innen vor Verlust und Abstieg schützen und Zukunftschancen eröffnen.

 

b) Ein Europa der gleichwertigen Lebensverhältnisse ist gelebte Sozialdemokratie

 

Solidarität erlangte in den Monaten der Corona-Pandemie in Deutschland eine neue, wiederentdeckte Popularität. Für die SPD ist Solidarität von jeher die Grundlage unseres politischen Denkens und Handelns, sowie ein ständiger Ansporn, immer wieder neu für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einzutreten. Die Sozialdemokratie basiert seit ihrer Gründung 1863 auf den Forderungen der französischen Revolution von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, die im Laufe der Zeit zu „Freiheit, Soziale Gerechtigkeit und Solidarität“ weiterentwickelt wurden: „Für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft, so heißt es im Hamburger Programm. In den vergangenen über 150 Jahren schafften es SPD und Gewerkschaftsbewegung, viele soziale Reformen durchzusetzen, ob Arbeitsschutz und Krankenversicherung, menschengemäße Arbeitszeiten, Arbeitslosenversicherung oder Mindestlohn. Diese Errungenschaften, sowie die breite Verteilung von Vermögen und Chancen über die gesamte Bevölkerung, waren und sind bis heute das Fundament und die Quelle unseres Wohlstands.

 

Dies geschah in der Vergangenheit überwiegend im nationalstaatlichen Rahmen. Aber ein solidarisches Europa ist schon lange unser Ziel: „Das soziale Europa muss unsere Antwort auf die Globalisierung werden,“ heißt es schon im Hamburger Programm. Und bereits vor fast 100 Jahren formulierte die SPD im Heidelberger Programm 1925: „Sie tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa und damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen“. Folgerichtig zielte eine wesentliche Forderung im Wahlprogramm für die Europawahl 2019 auf „Gleichwertige Lebensverhältnisse und menschlichere Haushaltspolitik“ (S. 14): „Gleichzeitig unterstützen sich die Mitgliedsstaaten untereinander durch mehr Solidarität für gleichwertigere Lebensbedingungen in ganz Europa und seinen Regionen. Das Kaputtsparen vor allem zulasten des sozialen Zusammenhalts werden wir beenden. Zukunftsinvestitionen und die Konsolidierung von öffentlichen Haushalten dürfen nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden.“

 

Von unserer Zukunftsvorstellung der gleichwertigen Lebensverhältnisse in Europa sind wir heute jedoch noch weit entfernt. Zwischen den Lebensbedingungen im Nordwesten Europas und denen im Südosten Europas besteht eine große Lücke:  In den ärmsten Regionen Rumäniens beispielsweise, wo rund 30 Prozent der rumänischen Bevölkerung leben, beträgt das Pro-Kopf-Einkommen lediglich knapp 100 Euro pro Monat. Nicht erst seit der Corona-Pandemie ist bekannt, dass genau aus diesem Grund viele Menschen aus Rumänien bereit sind, in Deutschland unter miserablen und teils unakzeptablen Bedingungen zu arbeiten, beispielsweise in Schlachtbetrieben, als Spediteure und LKW-Fahrer oder als Erntehelfer. Genau dieses Gefälle zwischen West und Ost, zwischen Nord und Süd, zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen gilt es schrittweise aufzulösen!

 

Solidarität, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit müssen innerhalb Deutschlands und auch in ganz Europa hergestellt werden. Innerhalb fast aller europäischen Länder ist die Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Einerseits ist das Risiko einer relativen Armut trotz Arbeit bereits vor Corona deutlich gestiegen, andererseits halten die reichsten ein Prozent der Europäer*innen fast ein Drittel des Vermögens – während die unteren 40 Prozent der Bevölkerung weniger als ein Prozent des gesamten europäischen Nettovermögens besitzen und kaum an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben. Die Corona-Krise verstärkt diese Ungleichheit. Wachsende Ungleichheit untergräbt das marktwirtschaftliche und soziale Fundament unserer Gesellschaften und gefährdet damit letztlich den Wohlstand aller.

 

 

Es darf nicht sein, dass in der Krise bzw. im Strukturwandel ganze Regionen, und damit unzählige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirtschaftlich abgehängt werden, gleich ob dies ländliche Regionen oder Regionen mit veralteten Industrien (Kohle, Stahl und andere Co2-intensive Industrien etc.) betrifft. Diesen Strukturwandel sozialverträglich zu gestalten und vorhandene Potentiale zu aktivieren ist eine gemeinschaftliche Aufgabe und erfordert gewaltige politische und finanzielle Anstrengungen. Andernfalls droht sich die Spaltung der Gesellschaften zu vertiefen, was zu einem weiteren Erstarken von Rechtspopulismus, Nationalismus und Rassismus führt, gespeist durch Abstiegsängste, die von rechten Kräften geschürt werden.

 

Unsere bisher oft im nationalstaatlichen Rahmen erkämpften sozialen Errungenschaften müssen also stärker als bisher europaweit gedacht und durchgesetzt werden. Die Megatrends der Digitalisierung, der globalisierten Kapital- und Arbeitsmärkte, des Klimawandels und der demographischen Entwicklungen erfordern, dass die Herausforderungen unserer Zeit international angegangen werden. Unsere Zielsetzung ist: „Eine demokratische Gesellschaft und Wirtschaft, die allen zugutekommt, eine Gesellschaft, in der jeder in Würde leben kann“. (SPE 2019).

 

Im Europawahlkampf haben wir deshalb Schritte in Richtung einer europäischen Sozialunion gefordert: „Die sozialen Grundrechte haben Vorrang vor den Freiheiten des Marktes. Stärker als bisher muss soziale Politik grenzübergreifend vorangetrieben werden. Deshalb wollen wir den Ausbau einer europäischen Sozialunion. Die sozialen Standards sollen auf höchstem Niveau angeglichen werden“ (drei Kernbotschaften der NRW SPD zur Europawahl 2019). Für uns Sozialdemokrat*innen bedeutet das zu allererst, dass es überall in Europa angemessene Mindestlöhne und soziale Sicherungssysteme geben muss, die allen Menschen ein gutes Leben und – gemessen am jeweiligen Preisniveau – gleichwertige Lebensverhältnisse ermöglichen. Auch eine europaweite Koordination und Verschränkung von Sozialsystemen kann dabei helfen, soziale und wirtschaftliche Ungleichgewichte abzufedern. Deshalb haben wir Sozialdemokraten uns für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung und für ein europäisches Kurzarbeitergeld eingesetzt und werden deren Umsetzung weiter vehement auf europäischer Ebene einfordern.

 

Doch Freiheitsrechte, soziale Gerechtigkeit und Solidarität hören nach unserem Verständnis nicht an der EU-Außengrenze auf. Diese drei für uns fundamentalen Werte müssen auch für Geflüchtete gelten, egal ob sie bereits europäischen Boden betreten haben oder nicht. Die bisherige, auf Ungleichheit setzende Wirtschaftsweise, die insbesondere in Zeiten der Krise für die Ärmsten lebensbedrohende Auswirkungen hat, Konflikte und Bürgerkriege und nicht zuletzt der Klimawandel, der mit Ernteausfällen, Dürren und Wüstenausdehnungen einhergeht, sind ursächlich für viele Fluchtbewegungen.

 

Es geht also heute mehr denn je darum, gleichwertige Lebensverhältnisse sowohl zwischen den Staaten der EU, als auch innerhalb der Länder durchzusetzen und gleichzeitig um einen den Menschenrechten verpflichteten Umgang mit Geflüchteten, vor allem an den EU-Außengrenzen.

 

Europa muss den Vielen dienen und nicht den wenigen Vermögenden. Nur mit einer Ent-wicklung in Richtung einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse können wir unseren „Eu-ropean Way of Life“, also sozialen Frieden, Demokratie und eine offene, freiheitliche Gesell-schaft auf Dauer erhalten und stärken.

 

Zur Erreichung dieser Ziele brauchen wir eine starke EU und die EU braucht eine starke Sozialdemokratie.

 

II. Zukunftsstrategien: welche Handlungsschwerpunkte die EU in der Krisenbewältigung setzen sollte

 

Die Herausforderungen der aktuellen globalen wirtschaftlichen Rezession lassen sich nicht im nationalstaatlichen Rahmen lösen, zumal die besonders hart getroffenen Volkswirtschaften Südeuropas die geringsten fiskalischen Spielräume für ein solches Programm haben. Wir Sozialdemokraten haben daher schon zu Beginn der Krise ein echtes europäisches Investitions- und Wachstumsprogramm für die Zeit nach der Krise eingefordert.

 

Es ist gut und wichtig, dass die Aushandlung und Umsetzung eines ambitionierten europäischen Konjunkturprogramms in Form des sogenannten Wiederaufbaufonds nun während der deutschen Ratspräsidentschaft ganz oben auf der Agenda steht. Der von Olaf Scholz und Bruno Le Maire vorbereitete deutsch-französische Vorschlag („Merkel-Macron-Plan) sowie die Vorschläge der EU-Kommission („Next Generation EU“), einschließlich des Timmermans-Plans („European Green Deal“) weisen in die richtige Richtung. Die Staats- und Regierungschefs haben diesen Plan im Juli 2020, in groben Umrissen, bestätigt und auf den Weg gebracht. Gleichwohl fehlt es an vielen Stellen noch an Klarheit, wie genau die Umsetzung von statten gehen und welche Schwerpunkte bei den Investitionen letztlich gesetzt werden sollen. Hierzu haben wir Sozialdemokraten eine klare Position.

 

Aus unserer Sicht ist insgesamt ein Umdenken erforderlich. Veraltete öffentliche Infrastruktur, dem Spardiktat unterworfene Sozialsysteme in vielen Mitgliedstaaten und privatisierte Gesundheits- und Daseinsvorsorge tragen mit dazu bei, den gesellschaftlichen Zusammenhalt schon seit Jahrzehnten erodieren zu lassen. Und auch die Klimakrise wird sich nicht ohne staatliches Handeln oder allein durch ein kurzfristiges Rettungsprogramm lösen lassen. Die Geringschätzung für staatliches und gemeinwohlbasiertes Handeln und das blinde Vertrauen in das freie Spiel der Märkte müssen nun ein Ende haben. Bestimmte Aufgaben können wir nur gemeinsam, koordiniert, solidarisch meistern. Wir brauchen, auch über den Tag hinaus, mehr öffentliche Investitionen, um die Grundlage für eine zukunftsfähige, klimafreundlichere und sozial nachhaltige Wirtschaftsweise zu legen.

 

Insofern bietet die aktuelle Krise nicht nur einen notwendigen Anlass für Stabilisierungsmaßnahmen, sondern eine echte Chance für einen neuen Aufbruch in Europa.

 

Bei dem nun vorgeschlagenen Wiederaufbaufonds muss es deshalb um Transformation und damit auch um die richtige Schwerpunktsetzung bei öffentlichen Investitionen gehen:

 

  • Klimaschutz und nachhaltige Wirtschaftsmodelle: Der „Green Deal“ darf kein Corona- Opfer werden! Das Klima wartet nicht auf bessere Konjunktur. Die Europäische Union muss im Klimaschutz vorangehen – denn es braucht Vorreiter, denen andere folgen können. Öffentliche Investitionen in öffentliche Verkehrsnetze und E-Ladesäulen, sowie Zukunftstechnologien, wie beispielsweise in der CO2-neutralen Energieerzeugung und -speicherung, beim Energietransport und bei der Energieeffizienz, können Impulse setzen und Wettbewerbsvorteile für die europäische Wirtschaft generieren. An erster Stelle ist hier der Aufbau einer europäischen Wasserstoffwirtschaft zu nennen. Europa hat hier bereits einen technologischen Vorsprung, den es auszunutzen gilt. Auch die Vergabe von Agrarsubventionen muss an Klimaschutzziele gekoppelt werden. Neben dem Wiederaufbaufonds bzw. nach dessen Auslaufen braucht Europa die Einrichtung eines Klimafonds, welcher neben öffentlichen Geldern auch Mittel privater Anleger bündelt und in zukunftsfähige Projekte investiert. Die europäischen Staaten müssen gemeinsame Rahmenbedingungen setzen, die auch privatwirtschaftliche Investitionen in Zukunftstechnologien und eine klimafreundliche Infrastruktur zu einem profitablen Geschäft werden lassen. Ein Baustein dieser Politik muss die europaweit einheitliche und ambitionierte Bepreisung von CO2-Emissionen sein, welche mittels einer CO2-Steuer oder einem alle Sektoren umfassenden Emissionshandel zu ausreichend hohen Preisen zu erreichen ist. Um fossile Energieimporte aus dem außereuropäischen Ausland nicht zu bevorteilen, braucht es darüber hinaus eine CO2-Grenzsteuer.

 

  • Daseinsvorsorge, Gesundheit und Soziales: Wir müssen aus der Sackgasse herauskommen, in der die Daseinsvorsorge nach marktwirtschaftlichen Kriterien „optimiert“ wurde, und in der Gewinne in den letzten Jahrzehnten stets privatisiert und Verluste und Verwerfungen sozialisiert wurden. Die Daseinsvorsorge stellt die wichtigste Voraussetzung für erfolgreiches Wirtschaften in einer lebenswerten Gesellschaft dar. Investitionen in öffentliche Güter sollten entsprechend auch von der europäischen Ebene unterstützt und nicht ausgebremst werden. Europäische Mittel sollten als Co-Finanzierung bzw. Anschubfinanzierung für kommunale Daseinsvorsorge verwendet werden können. Europäisches Vergabe- und Beihilfenrecht muss darauf hin überprüft werden, ob bzw. in welchen Bereichen es öffentliche Investitionen ausbremst, kommunale Einrichtungen schwächt und Gemeinwohlinteressen zuwiderläuft. Daseinsvorsorge wie Wasser und Stromversorgung gehört in Öffentliche Hand – nicht in die Hand des Marktes! Auch hier steht es uns Europäern gut zu Gesicht, aus den Fehlern der jüngsten Vergangenheit zu lernen. Gesundheitspolitiken sollten stärker grenzübergreifend vernetzt und die Bekämpfung von Pandemien muss strukturell und finanziell auf europäischer Ebene abgesichert werden, beispielsweise durch Einrichtung eines europäischen Krisenstabes, der im Fall von Pandemien gemeinsame Strategien der Seuchenbekämpfung entwickelt, kritische Infrastruktur unterstützt und Bestände von relevanter medizinischer Schutzausrüstung vorhält. Im Rahmen der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass der Gesundheitsbereich im wahrsten Sinne des Wortes systemrelevant und daher auch so auszustatten und abzusichern ist!

 

  • Verträglicher Strukturwandel, Digitalisierung, Bildung und Forschung: Unabhängig von ökologischen und ökonomischen Aspekten liegt es stets in der Verantwortung sozialdemokratischer Politik, den Strukturwandel sozial verträglich zu gestalten. Konkret bedeutet dies, den Beschäftigten in besonders von diesem Wandel betroffenen Branchen (z.B. des Automobil- und Energiesektors) Perspektiven in neu entstehenden Wirtschaftszweigen zu bieten. Die enormen Wachstumschancen, die der ökologische Umbau bietet, machen das möglich. Das Abhängen ganzer Regionen in Europa muss verhindert werden, denn es untergräbt das gesellschaftliche und politische System und schwächt auch die Wirtschaft. Regional- und Strukturfonds müssen zukunftsfähig aufgestellt werden, um damit Europa zu einem stärkeren, fortschrittlicheren und nachhaltiger wirtschaftenden Kontinent zu machen. Statt der konventionellen Landwirtschaft müssten Forschungs-, Aus- und Weiterbildungsprojekte stärker von europäischen Mitteln profitieren. Dasselbe gilt für den digitalen Wandel, in dem Europa nicht abgehängt werden darf. Es ist die Aufgabe der europäischen Politik, Strategien zu entwickeln, die uns aus der Abhängigkeit von den USA und China lösen und zu digitaler Eigenständigkeit verhelfen können. Dabei ist wichtig: Auch im digitalen Zeitalter gilt das Primat des Staates über die Wirtschaft. Der Regellosigkeit von Digitalkonzernen (z.B. in Form von Steuervermeidung, bei der Verbreitung von Hetze und Falschinformation oder bei Datenschutz und -kontrolle) und rechtsfreien Räumen im Netz schieben wir einen Riegel vor.

 

  • Humane Migrationspolitik, Asylrecht sowie internationale humanitäre und Entwicklungszusammenarbeit: Europas Rolle in der Welt erschöpft sich nicht in der Wirtschafts- und Technologieführerschaft. Europas Wertekanon basiert auf Humanität und muss auch für schwächere Staaten, beispielsweise in Afrika, wirtschaftliche Perspektiven, Entwicklung und Zusammenarbeit befördern. Auch eine solidarische, den Menschenrechten verpflichtete Migrationspolitik ist fester Bestandteil der europäischen Werte. Dazu gehört unbedingt ein EU finanziertes europäisches Seenotrettungsprogramm, das mindestens den Umfang des ehemaligen Mare Nostrum Programms (Italiens) umfasst. Zudem müssen die sogenannten europäischen „Hotspots“ für Flüchtlinge, wie beispielsweise auf der Insel Lesbos, so ausgestattet sein, dass es westeuropäischen Hygiene- und Sozialstandards entspricht. Überfüllte Lager mit menschenunwürdigen Bedingungen sind eine Schande für Europa, das sich doch weltweit seiner humanitären und sozialen Werte rühmt. Auch der längst überfällige, noch auszuhandelnde Asyl-Verteilungsmechanismus ist mit den nötigen finanziellen Mitteln zu hinterlegen. Zunächst muss eine „Koalition der Willigen“ hier im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit vorangehen.

 

Bei den erforderlichen europäischen Finanzprogrammen und Investitionen muss auch eines klar sein: der Erhalt von europäischen Geldern muss zukünftig stärker an die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards geknüpft sein. Wer Gerichte zu Handlangern seiner Politik macht, kritische Medien oder zivilgesellschaftliche Initiativen unterdrückt, freie Universitäten zerschlägt, die parlamentarische Demokratie ausschaltet, sich trotz einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof Europäischem Recht widersetzt (z.B. betreffend die Aufnahme von Flüchtlingen) oder europäische Gelder in die eigene Tasche abzweigt bzw. damit ein System der Vetternwirtschaft großen Ausmaßes alimentiert, der hat kein Recht, von den Geldern der Gemeinschaft zu profitieren. Das Europäische Parlament hat hier berechtigterweise einen wirksamen Sanktionsmechanismus eingefordert. Die Europäische Kommission hat dazu bereits 2018 einen brauchbaren Vorschlag für eine Verordnung gemacht (COM(2018) 324 final 2018/0136(COD)), auf dessen Grundlage mit der Verabschiedung des mittelfristigen Finanzrahmens nun eine verbindliche Lösung gefunden werden muss.

 

Dass die erforderlichen Investitionen mit einer Aufnahme von Schulden einhergehen, ist weder außergewöhnlich noch ist es für sich genommen ein Problem. Öffentliche Investitionen können in mehrfacher Hinsicht ein gutes Geschäft für die Allgemeinheit darstellen: sie können nicht nur die strauchelnde Privatwirtschaft stützen, sondern vor allem auch für die dringend erforderliche Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur sorgen. Sie können die erforderlichen Anstöße für eine Umstellung auf klimafreundliche Wirtschaftsweisen geben. Darüber hinaus können sie, wie jede wirtschaftliche Investition, Mehrwert für die nächste Generation generieren (etwa in Form von Energie- und Verkehrsinfrastruktur, digitalen Netzen, sowie Unternehmen oder Immobilien im öffentlichen Eigentum). Heutigen Schulden steht morgen zwar der Schuldendienst (der im Zeitalter von Null- und Negativzinsen keine wirkliche Bürde darstellt) gegenüber; aber eben auch der wirtschaftliche Mehrwert der Investition. Insofern müssen Investitionen bei der Bemessung der Neuverschuldung, etwa im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, gegengerechnet werden. Dagegen bedeuten heute unterlassene Investitionen für die künftige Generation eine Last, die schwerer wird, je länger die notwendige Modernisierung verschleppt wird.

 

Die immer wieder beschworene Gefahr einer „Vergemeinschaftung von Schulden“ bzw. einer „Schuldenunion“ halten wir für übertrieben. Investitionsprogramme sind immer am wirksamsten, wenn sie koordiniert und im größeren Maßstab erfolgen. Eine Transformation von Wertschöpfungsprozessen muss im Zeitalter der Globalisierung zumindest europäisch angegangen werden. Rein nationale Konjunkturprogramme ohne europäische Koordinierung drohen zu verpuffen bzw. bestehende Ungleichgewichte zu verstärken.

 

Darüber hinaus ist es aber richtig, dass öffentliche Investitionen auch auf europäischer Ebene transparent ausgehandelt, nach Effizienz- und Gemeinwohlkriterien begrenzt und demokratisch legitimiert werden müssen. Das institutionelle Gefüge der EU sollte für eine dauerhafte gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik daher neu überdacht und angepasst werden.

 

III. Institutioneller Rahmen: wie sich die EU für die Zukunft neu aufstellen muss

 

Wir Sozialdemokrat*innen fühlen uns dem Fortschritt verpflichtet und nehmen Krisen als Chancen an, die es zum Wohle der Menschen zu gestalten gilt. Dazu gehört, die grundsätzlichen Fragen zur Zukunft der EU zu stellen und anzugehen. Welche institutionelle Verfassung soll die EU haben und wie soll der geplante Wiederaufbaufonds hierin eingegliedert werden? Welche finanzpolitische Architektur braucht Europa? Und wie stellen wir die demokratische Legitimation in diesem System sicher?

 

Das oben skizzierte Wiederaufbauprogramm darf nicht für sich allein stehen und dem Einfluss nationaler Eigeninteressen und undurchsichtiger privatwirtschaftlicher Einflussnahme ausgeliefert werden. Vielmehr muss die Umsetzung vom Europäischen Parlament oder von einem durch das Parlament legitimierten Gremium gesteuert und kontrolliert werden. Europäisch initiierte Projekte sollten Vorrang haben vor der reinen Weiterleitung von Geldern an nationale Regierungen. Der gemeinsame Wiederaufbaufonds sollte somit den Auftakt geben für eine grundlegende Weiterentwicklung der Europäischen Union.

 

Eine solche Weiterentwicklung der EU muss die Instabilität, die unserer Wirtschafts- und Währungsunion von Anfang an innewohnt, endlich angehen. Mit der Einführung des Euro haben die Mitgliedsstaaten wirtschaftspolitische Instrumente und Handlungsspielräume abgegeben. Geld- und währungspolitische Kompetenzen wurden zur EZB verlagert. Gleichzeitig wurden die fiskalischen Spielräume der Mitgliedsstaaten durch starre Schuldenregeln eingeschränkt. Daneben wurde das staatliche Handeln weiteren Beschränkungen unterworfen, etwa einem weitreichenden Verbot von staatlichen Beihilfen, sowie Einschränkungen staatlicher „Eingriffe“ im Bereich der Daseinsvorsorge. Einen Ausgleich, der die unterschiedlichen ökonomischen Strukturen der Mitgliedstaaten berücksichtigt und Räume für unterschiedliche wirtschaftspolitische Stabilisierungsmaßnahmen in der Krise eröffnet, hat es auf europäischer Ebene nie in ausreichender Weise gegeben. Ökonomische Stabilisierungsmechanismen in Form von gemeinsamen Haushalten für Investivausgaben, gemeinschaftlichen Einnahmen wie Anleihen und Steuern, horizontalen Finanzausgleichen, gemeinsamen sozialen Sicherungssystemen, kurz: einer zentral koordinierten Finanz-, Wirtschafts-  und Sozialpolitik gibt es auf europäischer Ebene bisher quasi nicht.

 

Im aktuellen Institutionengefüge haben nationale Regierungen also Handlungsfähigkeit und Macht abgegeben, niemand anders nimmt sie an ihrer Stelle wahr und am Ende haftet jeder Staat für sich alleine. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

 

Ein Staat, der nicht mehr allein über die Ausgabe seiner Staatsanleihen entscheiden, der nicht die Zinshöhe und den Wert seiner Währung steuern kann und der nicht mal mehr die Möglichkeit hat, gegen innerstaatliche wirtschaftliche Verwerfungen effektiv einzuschreiten, kann in Krisen schnell in eine Schieflage geraten. Er wird damit zum Spekulationsobjekt und Spielball der Kapitalmärkte, was wiederum seine Zins- und Schuldenlast steigen lässt. Dieses instabile Konstrukt konnte seit der letzten Finanzkrise nur durch enorme Anleihekaufprogramme der EZB und damit einhergehend eine immense Ausweitung der Geldmenge aufrechterhalten werden.

 

In der Krise zeigt sich aber umso deutlicher, dass die EU eine stärker europäisch koordinierte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik braucht, die den Wegfall nationaler Handlungsmöglichkeiten kompensiert. Die Währungsunion braucht die Konvergenz ihrer Teile (d.h. Annäherung statt Auseinanderdriften). Und Konvergenz erfordert umfassende Investitionen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt verhindert diese Investitionen durch Sparzwänge jedoch genau dort, wo sie am dringendsten nötig sind und am wirksamsten wären: in den südlichen Euro-Ländern. Im Sinne des hier geforderten Wachstumsprogramms fordern wir deshalb, einen neuen Pakt für eine nachhaltige und starke Wirtschafts- und Währungsunion zu schließen, der die Stabilitätskriterien auch über den Tag hinaus um eine aktive Investitionspolitik ergänzt.

 

Es ist an der Zeit, den Teufelskreis aus Investitionsschwäche und Staatsverschuldung zu durchbrechen. Im Sinne einer europäischen Solidargemeinschaft bedarf es eines innereuropäischen Finanzausgleichs (analog zu dem der deutschen Bundesländer) zwischen den Strukturstarken und den Schwächeren. Denn die Stärke der Starken beruht vor allem darauf, dass es auch den Schwächeren gut geht. Entscheidend ist, die aufgenommenen Mittel nicht als Kredite, sondern als direkte Transfers dorthin weiterzuleiten, wo sie für die Erreichung gemeinschaftlich definierter Ziele gebraucht werden. Die Vorschläge von Deutschland und Frankreich sowie der Europäischen Kommission aus dem Frühjahr 2020 wiesen bereits in diese Richtung. Gleichwohl fordern wir eine solche Reform über den Kontext der Corona-Pandemie hinaus – und somit die Einrichtung eines ständigen Finanzausgleichs. Er ist nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch notwendig, um dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse überall in der Europäischen Union näherzukommen. In einem ersten Schritt sollte ein solches System innerhalb der Eurozone eingeführt werden.

 

Die Beschlüsse des Europäischen Rates zum Wiederaufbaufonds vom Juli 2020 sind hier, bei allen zu Recht vom Europaparlament beklagten Mängeln, ein Meilenstein, weil zum ersten Mal die Gemeinschaft als solche Mittel aufnehmen und für Wiederaufbauprojekte in den besonders betroffenen Mitgliedsländern einsetzen soll, um die Schocks der Corona-Krise abzumildern. Die Staats- und Regierungschefs zeigen damit die Einsicht, dass ein solches Element in der bisherigen Wirtschafts- und Währungsunion fehlte. Es ist nun Aufgabe der deutschen und europäischen Sozialdemokratie, diese Chance als Einstieg in eine permanent strukturierte Fiskalunion zu nutzen. In diesem Sinne sollte die SPD klar Stellung beziehen und für eine grundsätzliche Reform der Eurozone werben. Denn am Anfang jeder Reform steht die öffentliche Debatte. Dass die EU nun in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, die Monate zuvor noch unerreichbar schienen, macht Mut für die Zukunft.

 

Ein Solidarsystem dieser Form wäre der Einstieg in eine gemeinsame, europäische Fiskalpolitik, welche sich nicht in der Frage der Verschuldung erschöpft. Die permanent strukturierte EU-Finanzpolitik, für die wir eintreten, ist supranational. Beständigkeit gewinnt sie durch die Herauslösung aus der intergouvernementalen Logik des Europäischen Rats. Unabhängigkeit gewinnt sie durch eigene Mittel. Einerseits sollten EU-Institutionen unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmtem Rahmen in Zukunft eigene Anleihen emittieren dürfen. Andererseits brauchen wir auch europäische Steuern. Diese Mittel versetzen die Europäische Kommission in die Lage, Investitionen in die nachhaltige und digitale Zukunft Europas zu tätigen. Vor allem aber verschaffen sie der europäischen Ebene endlich die notwendige Handlungsfähigkeit, gemeinsame Politikziele effektiv zu verfolgen.

 

Es bieten sich mehrere Steuerinstrumente an, die europäisch ausgestaltet werden können. Dazu zählen die Besteuerung von Digitalkonzernen- bzw. Digitaltransaktionen oder Finanztransaktionen, Einnahmen aus CO2-Steuermodellen bzw. dem Emissionshandel. Ferner sprechen gute Gründe für eine EU-weite Besteuerung von Plastikverpackungen, Flugbenzin sowie auch für eine CO2-Grenzsteuer, die auf außerhalb der EU hergestellte klimaschädliche Produkte, je nach Klimaschädlichkeit der Herstellungsverfahren, erhoben werden könnte. Damit könnten Emissionen wirksam eingespart und gleiche Wettbewerbsbedingungen hergestellt werden. Diese Beispiele verdeutlichen, dass wir auch in der Steuerpolitik von einer rein nationalstaatlichen Kompetenz zu einem Kompetenzgefüge nach dem Prinzip der Subsidiarität übergehen sollten. Auf Politikfeldern, in denen eine effektive Lenkungswirkung am besten europäisch erzielt werden kann, sollte die EU auch die Kompetenz erhalten, Steuern zu erheben. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir ausdrücklich, dass der Gipfel der Staats- und Regierungschefs sich im Juli 2020 diese steuerpolitischen Ideen zu eigen gemacht hat und die Kommission aufgefordert hat, Vorschläge für die weitere Umsetzung zu machen.

 

Die Finanzarchitektur, die wir vorschlagen, sollte unter dem Dach eines europäischen Finanzministeriums organisiert werden, welches Teil der Europäischen Kommission ist. Dieses wacht über Einnahmen und Ausgaben und verfolgt mit seinen Tätigkeiten das Ziel des wirtschaftlichen Zusammenwachsens. Es kontrolliert die Einhaltung der Förderziele, koordiniert Investitionen in die wirtschaftliche Infrastruktur und dringt darüber hinaus auf eine Harmonisierung der nationalen Steuersysteme. Das EU-Finanzministerium identifiziert Investitionsbedarfe und kann unabhängig von nationalen Regierungen direkt Projekte in den Regionen Europas fördern. Auf diese Weise lässt sich verhindern, dass europäische Mittel zweckentfremdet werden oder „versickern“. Gemeinsame Mittel werden zielgerichtet und transparent für die Erreichung der Ziele verwendet, die die Mitgliedstaaten sich gemeinschaftlich setzen. Eine derartige „Europäisierung“ der europäischen Finanzpolitik kann so die Probleme lösen, die von ihren Gegnern immer wieder unterstellt werden. Als Teil der Europäischen Kommission wirkt auch das Ministerium als Hüter der Verträge und beobachtet die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten. Regierungen, die gegen elementare Prinzipien wie die Freiheit der Presse, der Justiz oder der Universitäten verstoßen, dürfen nicht von Mitteln aus der europäischen Fiskalunion profitieren.

 

Auch die Geld- und Währungspolitik der Europäischen Zentralbank ist Teil des europäischen Finanzsystems. Sie hat in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen, weil sie die oben beschriebenen Versäumnisse der nationalen Regierungen auszugleichen versuchte. Eine europäische Fiskalpolitik, wie wir sie vorschlagen, hätte das Potenzial, die Geldpolitik zu entlasten und die juristischen Zweifel an ihrer Legitimität, die durch das zurückliegende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Mai 2020 erneut entfacht wurden, zu entkräften. Gleichwohl hat die Vergangenheit gezeigt, dass die ausschließliche Orientierung der Geldpolitik am Ziel der Preisstabilität zu Verwerfungen führt. Wäre das Mandat der EZB weiter und würde es wirtschaftspolitische Aspekte stärker berücksichtigen, so verlöre das erwähnte Urteil an Schärfe. Das Mandat der EZB muss denselben hohen Zielen unterworfen sein, die alle europäische Politik leiten. Es muss der Vision des Wohlstands aller Europäer*innen und der Nachhaltigkeit der europäischen Lebensweise verpflichtet sein, die sich nicht ausschließlich am Aspekt der Preisstabilität bemessen lässt.

 

Als Sozialdemokrat*innen betreiben wir Politik niemals als Selbstzweck, sondern stets im Namen und im Sinne der Menschen, die wir vertreten. Vor diesem Hintergrund muss jede Reform der EU die demokratische Legitimation in den Mittelpunkt stellen. Eine europäische Schuldenaufnahme, gemeinsame Steuern und die Gründung eines supranationalen, gesamteuropäischen Finanzministeriums verleihen der Europäischen Union eine Souveränität, die einer stabilen, demokratischen Grundlage bedarf und die nur durch eine starke Legislative legitimiert sein kann. Sofern die hier beschriebene Politik die gesamte EU betrifft, fordern wir die Entscheidungshoheit und Richtlinienkompetenz des Europäischen Parlamentes. Soweit politische Entscheidungen in erster Linie die Eurozone betreffen, muss auch diese zunächst ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik europäisieren. Die Eurozone braucht ein parlamentarisches Organ, das der Eurogruppe (dem Rat der Finanzminister) gegenübersteht. Dieses Organ könnte in Form eines Ausschusses von Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und/oder der nationalen Parlamente gebildet werden. Ungeachtet der institutionellen Ausgestaltung gehört das Initiativrecht in steuer-, haushalts- und sozialpolitischen Fragen („no taxation without representation“) in die Hand einer europäischen Legislative.

 

Außerdem bedarf es dringend der Reform der Entscheidungsmechanismen in der EU, um dem Parlament mehr volle Entscheidungsbefugnisse zu übertragen, Einstimmigkeitserfordernisse im Rat im Bereich der Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik zu reduzieren und damit Selbstblockaden aufzulösen. So soll im Ergebnis das Europäische Parlament oder der erwähnte Eurozonen-Ausschuss die Ziele der europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik definieren, über die Budgetierung von Mitteln entscheiden und die Tätigkeit des europäischen Finanzministeriums kontrollieren. Durch das Zusammenspiel von Parlament und europäischem Finanzministerium sollen nationale Steuerpolitiken harmonisiert, insbesondere gemeinsame Grundsätze zur Mindestbesteuerung, zur Steuerbemessung sowie wirksame Regeln gegen Steuervermeidung aufgestellt und deren Umsetzung kontrolliert werden. Außerdem muss das Mandat der EZB in regelmäßigen Abständen (z.B. alle 7 Jahre) vom Europäischen Parlament überprüft und ggf. angepasst werden. Wie die Debatte um das Bundesverfassungsgerichtsurteil zeigt, wirkt Geldpolitik unmittelbar politisch und hat spürbare, wirtschaftliche Auswirkungen auf jede*n einzelne*n. Die Schaffung einer stabilen demokratischen Legitimationsgrundlage für die Geldpolitik ist folglich überfällig.

 

Die Fortentwicklung der EU und der Eurozone im Sinne einer fiskalpolitischen Union ist ferner der Anlass, längst überfällige Reformen der Demokratisierung anzuschieben. Eine demokratische EU braucht ein starkes Parlament, das die Bürgerinnen und Bürger politisch vertritt und eine europäische Regierung, die die Entscheidungen umsetzt. Daher setzen wir uns dafür ein, dass das Parlament eine echte Legislative und die Europäische Kommission zu einer parlamentarisch kontrollieren Regierung ausgebaut wird. Seit Jahren fordern wir das generelle Initiativrecht des Parlaments und mehr haushaltspolitische Befugnisse als Ausdruck einer echten europäischen Legislative. Die notwendige Ausweitung der Ratsabstimmungen mit qualifizierter Mehrheit ist nicht nur, aber ganz besonders in der Steuer- und Sozialpolitik dringend notwendig. Darüber hinaus müssen wir die Europawahl europäisieren, indem wir transnationale Wahllisten einführen und damit das System der 27 Einzelwahlen überwinden. Auch sollte verbindlich festgeschrieben werden, dass das Europäische Parlament den Präsidenten der Europäischen Kommission aus den von den Europäischen Parteienbündnissen nominierten Spitzenkandidaten wählt. Grundsätzlich wollen wir die Demokratisierung und Europäisierung der europäischen Politik nicht der Exekutive, sondern der Legislative anvertrauen. Integrationsimpulse sollten nicht nur vom Rat, sondern z.B. von einer ständigen, regelmäßig tagenden Konferenz der nationalen Parlamente ausgehen, deren einzige Aufgabe die Debatte und Verwirklichung der gemeinsamen europäischen Zukunft ist.

 

Letztlich bedarf jeder demokratische Prozess auch eines stabilen, zivilgesellschaftlichen Fundaments. Die Entwicklung einer starken, europäisch denkenden und handelnden, vielfältigen und unabhängigen Zivilgesellschaft ist deshalb von größter Bedeutung. Sie besteht weniger aus nationalstaatlichen, sondern vielmehr aus länderübergreifenden Parteien, Verbänden, Gewerkschaften, Medien und anderen Organisationen. Wir wollen eine europäische Öffentlichkeit fördern, indem wir unabhängige, europaweite Medien (Print, Online, TV und Hörfunk), die die Sprachbarrieren überwinden sollen, fördern. Die Regionen Europas sind zu stärken, ebenso die Rolle der Kommunen. Wir wollen, dass sich Kommunen – auch grenzüberschreitend – vernetzen und gemeinsame Infrastrukturprojekte angehen können.

 

***

 

Unser Europa zeichnet sich dadurch aus, nicht nur in guten Zeiten voneinander zu profitieren, sondern auch in schlechten Zeiten zusammenzustehen. Die Europäische Union ist eine Schicksalsgemeinschaft, deren Mitglieder sich sowohl im Aufschwung als auch in der Krise gegenseitig unterstützen müssen. Wer sich so eng untereinander vernetzt, Wertschöpfungsketten zum Vorteil vieler miteinander verknüpft und somit auch direkt voneinander abhängt, der kann und darf nicht zulassen, dass dieses Netz in stürmischen Zeiten auseinanderreißt. Wer gemeinsame Werte über fundamentale Rechte und die Organisation von Gesellschaften teilt, wer sich rühmt, durch Freizügigkeit und offene Grenzen das Zeitalter der europäischen Kriege endgültig überwunden zu haben und wer in Bezug auf geopolitische Interessen mittlerweile längst in einem Boot sitzt, der darf nicht zulassen, dass dieses Boot Schlagseite bekommt. Doch genau so schien es zu Beginn der Corona-Krise. Die Pandemie wirkte auch in dieser Beziehung wie das schon sprichwörtlich gewordene „Brennglas“, unter dem strukturelle, schon lange schwelende Krisen deutlich werden. Nun ist es mehr denn je erforderlich, diese Krisen endlich zu lösen und Europa in eine solidarische, demokratische und nachhaltige Zukunft zu führen. Wir Sozialdemokrat*Innen sind dazu bereit.

 

Empfehlung der Antragskommission:
Annahme und Überweisung an SPD-Parteivorstand als Material für die Erarbeitung des Wahlprogramms für die Bundestagswahl