Der Parteitag der NRWSPD möge beschließen
Weiterleitung SPD- Bundesparteitag
I.
Das geltende Familienrecht wird seit langem nicht mehr der gesellschaftlichen Wirklichkeit gerecht. Abgesehen von der Neufassung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts (1.1.2023) fanden die letzten Reformen 1998 im Kindschaftsrecht und 2008 im Unterhalts-, Güter und Versorgungsausgleichsrecht statt.
In der Zwischenzeit haben sich Familienformen diversifiziert und sind deutlich vielfältiger geworden. Mittlerweile werden in Deutschland über ein Drittel der Kinder außerhalb der Ehe geboren. Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern sind somit eine weit verbreitete Familienform geworden. Daneben finden sich Patchworkfamilien, Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern, Adoptions- und Pflegefamilien sowie die große Anzahl von Familien mit getrennten Eltern.
Vor diesem Hintergrund hatte schon die damalige SPD-Familienministerin Katarina Barley 2017 unter der Überschrift „Gemeinsam getrennt erziehen“ den Anstoß zu einer Modernisierung des Familienrechtes gegeben. Auch eine Vielzahl von Fachleuten fordert nachdrücklich eine Reformierung des bestehenden Familienrechts ein. Dies gilt vor allem für die große Zahl von Trennungsfamilien.
In einem Drittel aller Familien mit Kindern bis zum 18. Lebensjahr kommt es jährlich zu einer elterlichen Trennung. Davon sind mehr als 180.000 Kinder betroffen, die derzeit überwiegend nur bei einem der beiden Eltern aufwachsen (meist bei den Müttern). Folglich ist der Kontakt mit dem anderen Elternteil stark reduziert oder geht sogar ganz verloren.
Andererseits wünschen sich viele dieser Eltern eine stärker anteilige Aufteilung von Kinderbetreuung, Familienarbeit und Berufstätigkeit. Denn die überwiegend betreuenden Eltern tragen erhöhte – nicht nur zeitliche – Belastungen (z.B. höhere Gesundheitsrisiken) und sind an beruflicher sowie sozialer Teilhabe (verbunden mit größerem Armutsrisiko) eingeschränkt. Viele der nicht betreuenden Eltern fühlen sich andererseits in ihrer Elternrolle abgewertet und leiden unter dem mangelnden Kontakt zu ihren Kindern.
Für Kinder bringt Alleinerziehung erhöhte Entwicklungsrisiken und vermehrten Bedarf an Hilfen zur Erziehung mit sich.
Diese Erkenntnisse wurden leider bisher gesetzgeberisch nicht aufgegriffen, geschweige denn umgesetzt. Auch die im Koalitionsvertrag formulierten Ziele reichen nicht aus; zudem sind bisher öffentlich auch hier keine Umsetzungsschritte erkennbar. So ist auch nicht bekannt, ob und gegebenen falls wie weit an einem Gesetzentwurf für eine Reformnovelle gearbeitet wird.
Wir fordern deshalb Bundesvorstand und Bundestagsfraktion auf, eine entsprechende Gesetzesinitiative zur Reform des Familienrechts noch innerhalb der laufenden Legislaturperiode von der Regierung einzufordern, im Verweigerungsfall selbst voranzubringen bzw. einzuleiten.
Kernaufgaben eines sozialdemokratischen Familienrechts sollten dabei sein, zum einen die im aktuellen Gesetz bestehende Ungleichbehandlung zwischen nichtehelichen und ehelichen Lebensgemeinschaften sowie zwischen Müttern und Vätern zu beseitigen. Zum anderen sollte das Familienrecht am Leitbild der Kooperation auch getrennter Eltern ausgerichtet werden, anstatt diese in Konfrontationssituationen zu führen.
II.
Bei der Reform des Familienrechts sollen insbesondere folgende Elemente Eingang finden:
1. Elterliche Sorge
- Nach Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft steht beiden Eltern von Gesetzes wegen die elterliche Sorge zu. Es bedarf hier einer grundrechtlichen Gleichstellung des Vaters, der bisher nur auf Antrag oder mit Zustimmungserklärung der Mutter das Sorgerecht erhält. Die richterliche Überprüfung steht der Mutter im Rahmen der Kindeswohlprüfung bei Bedenken ihrerseits – unter Einschluss des Verhaltens der Eltern untereinander – weiterhin offen.
- Als weiteres Betreuungsmodell nach einer elterlichen Trennung sind im Kindschaftsrecht – sowie in angrenzenden Rechtsgebieten (Melderecht, Sozialrecht, Steuerrecht, Jugendhilferecht) – Formen „anteiliger Betreuung“ durch beide Eltern rechtlich darzustellen.
- Das bestehende Familienrecht gestaltet in seinen Regelungen zur gemeinsamen elterlichen Sorge, zum Unterhalt sowie zum Zusammenleben mit den Kindern rechtlich bisher nur das „Residenzmodell“ als einziges familiäres Lebensmodell nach einer Elterntrennung aus. Dies soll um die rechtliche Ausgestaltung von Formen anteiliger Betreuung erweitert werden. Dabei sollen Familien das für sie passende im Recht abgebildete Betreuungs- und Lebensmodell auswählen können.
2. Unterhalt
- Es soll gesetzlich klargestellt werden, dass beim Kindesunterhalt eine anteilige Betreuung durch beide Eltern zu berücksichtigen ist. Gleichzeitig sind bestehende Einkommensunterschiede zwischen den Eltern ebenfalls zu berücksichtigen. Für eine faire Berechnung ist das individuelle Einkommen beider Eltern sowie ihre jeweiligen Betreuungsanteile zu Grunde zu legen. Der Kindesunterhalt ist entsprechend quotal zur Einkommenshöhe und quotal zum Betreuungsanteil zu berechnen.
- Entscheiden sich die Eltern bei Trennung dafür, die Kinder paritätisch zu betreuen, dürfen sie nicht die Kindesunterhaltszahlungen im gegenseitigen Einvernehmen aufheben, sondern sind verpflichtet, den Kindesunterhalt quotal nach ihren jeweiligen Einkommensverhältnissen zu leisten. Damit soll vermieden werden, dass dieses Betreuungsmodell zu Einsparungen von Unterhaltszahlungen gegenüber den Kindern missbraucht wird. Ein Verzicht zu Lasten der Kinder ist auch im Einvernehmen der Eltern unzulässig. Die hierzu gängige Rechtsprechung des BGH und der Obergerichte soll gesetzlich verankert werden, um Klarheit herzustellen.
- Nach der Trennung sollen verheiratete und nichtverheiratete Eltern, die gemeinsame Kinder überwiegend betreuen, beim Anspruch auf Betreuungsunterhalt gleichgestellt werden. Es soll klargestellt werden, dass der Betreuungsunterhalt sich am Sachverhalt der Betreuung des Kindes orientiert und nicht an dem persönlichen Familienstand.Derzeit wird bei verheirateten Eltern die Höhe des Betreuungsunterhalts auf der Grundlage des gesamten Familieneinkommens bemessen. Bei nichtverheirateten Eltern wird nur das Einzeleinkommen des überwiegend betreuenden der beiden Eltern zu Grunde gelegt. Verheirate und nicht verheiratete Eltern werden dadurch im Hinblick auf die Höhe des Anspruchs ungleich behandelt.
3. Konfliktlösung
- In familiengerichtlichen Verfahren von Paaren mit Kindern soll vorab die Möglichkeit der Durchführung eines gerichtlichen Mediationsverfahren angeboten werden, um möglichst im Vorfeld Einigungen über familienrechtliche Regelungen zu erzielen und lange gerichtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. Dazu sollte eine staatlich bezuschusste Mediationskostenhilfe eingeführt werden.
- Schon im Vorfeld einer Trennung sollen Eltern und Familien umfassende Beratung im Hinblick auf die Trennungsfolgen und eine konstruktive Gestaltung des Familienlebens nach einer Eltern-Trennung erhalten. Darin sollen auch finanzielle Fragen mit eingeschlossen sein. Für eine solche integrierte Beratung sollte ein Rechtsanspruch im Jugendhilferecht geschaffen werden.
- Bei den Jugendämtern und in der Jugendhilfe sollen verbindliche Qualitätsstandards für die Beratung und Intervention bei elterlichen Trennungen eingeführt und evaluiert werden, ähnlich wie es bereits bei den „Frühen Hilfen“ und beim „Kinderschutz“ erfolgreich der Fall ist.
- Den Familiengerichten muss es kraft Gesetzes ermöglicht werden, unversöhnlich streitende Eltern zur Teilnahme an Elternkursen und Familienberatung per Auflage zu verpflichten.
4. Sprachgebrauch im Familienrecht
- Ungleichbehandelnde, streitfördernde und nicht mehr zeitgemäße sprachliche Formulierungen wie „Umgang“, „Sorgerecht“ und „Elternteil“ sollen aus dem Sprachgebrauch im Familienrecht gestrichen werden. Anstelle von „Umgang“ und „Umgangsregelung“ sollte von „Zusammenleben mit dem Kind“, „anteiliger Betreuung“ oder „alternierender Betreuung“ gesprochen werden; anstatt von „elterlichem Sorgerecht“ von „elterlicher Sorgeverantwortung“. Eltern sollten nicht als „Elternteile“, sondern als „Elternpersonen“ angesprochen werden.
5. Weiterentwicklung der amtlichen Statistik
- Als wichtige Informationsquelle für die Sozialplanung und für politische Entscheidungen muss die amtliche Statistik die tatsächliche Vielfalt der heutigen Familienformen erfassen und abbilden. Hierzu ist notwendig, neben überwiegend betreuenden Eltern auch die tatsächliche Zahl der Alleinerziehenden anzugeben.
- Daneben müssen auch haushaltsübergreifende Lebenszusammenhänge von Familien getrennter Eltern mit anteiligen Betreuungsarrangements sowie die Anzahl derjenigen Eltern, die von ihren Kindern getrennt leben, miterfasst werden.